Die Gabe der Amazonen
wohlbehalten den Spalt. Die Reihe war an mir. Ich stieg auf den Vorsprung, schlüpfte hinter das Seil, das von Elgor an einem und Larix am anderen Ende straffgezogen wurde. Mit kleinen Schritten arbeitete ich mich über die bemooste, schlüpfrige Kante näher an den Wasserfall heran, bis das dumpfe Rauschen meine Ohren ganz und gar erfüllte und feine Tröpfchen mein Gesicht wie eine zweite, eiskalte Haut überzogen. Ich schloß die Augen, der Anblick der stahlblauen, ewig stürzenden Wand aus Wasser raubte mir fast die Besinnung. Schneidend kalt rissen und zerrten die Fluten an meinen Kleidern. So scheußlich hatte ich mir die Kletterei nicht vorgestellt! Da legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich wurde nach unten gedrückt und von einer zweiten Hand behutsam zwischen schabenden Felskanten nach hinten gezogen.
»Was ist los mit dir, Arve?« fragte Larix. »Sah ganz so aus, als ob du unbedingt ein Bad in diesem Teich nehmen wolltest ...«
Scheinbar war ich der einzige, dem der Wasserfall so zu schaffen machte, denn Viburn kam kurz hinter mir, und selbst Elgor, dem niemand mehr das Seil hielt, überwand die Felskante schneller als ich.
Wir standen in einem kleinen, fast runden Raum. Alle Wände – sie waren in schwaches, bläuliches Dämmerlicht getaucht – troffen vor Nässe, auf dem Boden schwappte knöcheltief eisiges Wasser. Das Getöse des Wasserfalles war so laut, daß es auf meinen Brustkorb drückte. Ich konnte nur einen einzigen klaren Gedanken fassen: Raus hier – so schnell wie möglich!
Mädchen hatte schon einen Ausgang gefunden: ein hüfthohes und etwa einen Schritt breites Loch. Sie ließ sich auf Hände und Knie nieder und kroch hinein. Vielleicht hätten wir abwarten sollen, bis sie zurückkehrte, um zu berichten, wohin der Gang führte, aber keiner von uns mochte auch nur einen Augenblick in dem brausenden Getöse bleiben – also krochen wir einer nach dem anderen hinter ihr her.
Nach wenigen Schritten umgab mich völlige Finsternis. Der Lärm der fallenden Wasser übertönte alle Geräusche, die meine Gefährten – oder ich selbst – verursachen mochten. So kroch ich taub und blind noch tiefer, auch ein spärliches Rinnsal floß unter unseren Händen und Knien abwärts. Hin und wieder gab es irgendwo vorn einen Aufenthalt. Das merkte ich daran, daß ich mit dem Gesicht gegen Elgors Hinterteil stieß und kurz darauf von Junivera einen Schubs erhielt. Eher ahnend als sehend nahm ich Helligkeit wahr. Sie wurde deutlicher, bis ich endlich Elgors dunkle, kriechende Gestalt von einem sie umgebenden Schein unterscheiden konnte. Dann sah ich, wie der Krieger sich aufrichtete. Ich kroch noch ein kleines Stück bis zur Einmündung des Gangs. Dahinter öffneten sich Wände und Decke zu einer wahrhaftig gigantischen Halle. In der mehr als zehn Mannslängen hoch gewölbten Decke klaffte an der höchsten Stelle ein Riß, durch den ein wenig Licht zu uns herabfiel, der Schein reichte aber nicht aus, um den riesigen Höhlensaal bis in alle Winkel auszuleuchten. Der Boden war eben und glatt, fast so, als würde er täglich gefegt. Links von uns sammelte sich das Wasser, das durch den Kriechtunnel floß, zu einem kleinen, flachen Teich. Am Rande dieser Wasserfläche standen ein paar Pilze, kniehoch und mit breiten, rötlichen Hüten. Larix ging hinüber, um sie sich näher anzusehen.
»Merkwürdig«, murmelte er. »Sie sind nicht echt, sondern aus Stein. Behauener, bemalter Stein ...«
Zwischen den Pilzen fand er auf dem Boden einen angebissenen Apfel, den er zu uns herüberbrachte. Es war ein guter Lagerapfel, die Schale weder schrumplig noch welk. Eine Hälfte wies Bißspuren auf, Zahnabdrücke in einem engen Kreis wie von einem kleinen Kind.
Viburn warf einen Blick darauf. »Eure Freunde, die Feilscher! Anscheinend haben sie sich an dem Teich dort einen Rastplatz eingerichtet. Ich frage mich nur, wohin sie gegangen sein mögen.«
Wir wanderten an der Wand der unterirdischen Halle entlang. Ihr Boden hatte die Form eines riesigen Ovals. Auf der einen Längsseite gab es nur eine einzige Öffnung – durch die waren wir hereingekommen –, auf der anderen Längsseite reihten sich mannshohe Gangöffnungen dicht an dicht. Oft waren die Einmündungen nur durch eine schmale Felssäule voneinander getrennt. Insgesamt gab es mehr als dreißig solcher halbrunder Öffnungen. An Meißelspuren war zu sehen, daß sie alle von Menschenhand angelegt worden waren. Hinter jeder Öffnung begann nach wenigen
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