Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Wunder, wenn Ezra, der Architectulus, in Aachen eines bekäme. Wie geht es deinen Eltern, Maria? Würde es sie freuen, endlich ihre Enkelkinder kennenzulernen? Wie schnell kannst du mit ihnen und deiner Freundin Theresa nach Prüm aufbrechen?«
Für die Begegnung mit dem Kaiser zog sich Ezra kein Kleid an. Sie ließ sich als Architectulus melden. Lucas hatte versucht, ihr diese Konfrontation auszureden. Er hatte sie angefleht, ohne Abschied vom Hof mit Heda-Maria und deren Kindern im kleinen Zug nach Prüm zu reisen. Sollte der Kaiser nach seinem Architectulus fragen, würde Lucas ihn über Ezras plötzliche Abreise in Kenntnis setzen und behaupten, er wäre seiner Mutter auf die Spur gekommen und auf eigene Faust losgezogen, um das Grab seines Vaters zu suchen.
Doch Ezra wollte den Kaiser nicht hintergehen. Sie erinnerte Lucas an Einhards Worte, dass an diesem Hof nichts geheim bleibe. Kaiser Karl würde ihm ohnehin nicht glauben. Wie könnte ein kleines Baumeisterwesen mehr wissen als er, der zahllose Späher ausgesandt hatte, um Dunja zu finden?
»Wenn du ihm die Wahrheit sagst, ist alles verloren«, gab Lucas zu bedenken.
Ezra lächelte. »Als Architectulus rede ich nicht, Lucas«, sagte sie. »Nicht einmal mit dem Kaiser. Ich muss also die Wahrheit nicht aussprechen, um eine Lüge zu vermeiden.«
Solange sich der Kaiser an die unausgesprochene Vereinbarung zwischen ihnen hielt, würde er von ihr nicht verlangen, den Mund zum Reden zu öffnen. Zwar wusste sie nicht, wie sie, zumal in Anwesenheit anderer, vorgehen sollte, aber sie vertraute auf eine Eingebung, auf die Barmherzigkeit Allahs und des Kaisers sowie auf dessen Empfänglichkeit für Ratespiele.
Am schwierigsten erschien ihr, überhaupt vorgelassen zu werden. Doch das Glück war ihr hold. Vor dem Palatium stieß sie auf Einhard, der soeben zu Karl gerufen worden war. So merkwürdig der Schreiber Ezras Ersuchen um eine Audienz beim Kaiser fand, umso neugieriger war er, was für ein Ansinnen der stumme Architectulus vorzutragen hatte und wie er es zu tun gedachte.
Zu Einhards Enttäuschung befahl ihm der Kaiser, den Raum zu verlassen, zusammen mit den Mönchen vom Kloster Corbie, mit denen er sich gerade über deren neu entwickelte Minuskelschrift beraten hatte.
»Unser junger Freund wird nicht lange brauchen, um mir von anderen erhabenen Kurven und Bögen zu berichten«, sagte der Kaiser zu den Männern. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, setzte er mit leiser Schärfe hinzu: »So ist es doch, mein lieber Architectulus?«
Ezra nickte. Wild fiel ihr dabei das Haar ins Gesicht. Karl deutete auf die Waschschüssel. Gehorsam steckte Ezra die Hände hinein und strich sich mit den nassen Fingern die Zotteln aus der Stirn.
»Wie erfreulich, dass wir uns verstehen«, sagte Karl und forderte Ezra auf, näher an den mit Pergamenten übersäten Tisch zu treten.
»Die jüngsten Entwürfe zu unserer neuen Schrift«, erklärte er. »Welche gefällt dir am besten?«
Ezra besann sich nicht lange und tippte auf einen Bogen.
»Warum gerade diese?«, fragte Karl.
Ohne zu überlegen, deutete Ezra erst auf den Bergkristall, der ein eng beschriebenes Pergament beschwerte, strich dann über einen Gänsekiel und steckte ihre Finger zwischen die Federstrahlen am Ende.
Karl schob nachdenklich die Unterlippe vor und klatschte dann vergnügt in die Hände.
»Kristallklar. Und federleicht zu lesen, weil es ordentlichen Abstand zwischen den einzelnen Worten gibt«, übersetzte er. »Aus genau diesen Gründen haben wir diese Schrift auch erwählt. Du hast einen sehr guten Blick für das Wesentliche, Ezra. Und nicht mehr viel Zeit, meine Kuppel zu bauen.«
Ezra hob zwei Finger.
»In zwei Jahren soll sie bereits meine capella krönen«, erwiderte Karl streng. »Hast du mir Ausführlicheres als Meister Odo über eure Fortschritte zu berichten?«
Ezra nahm die Schreibfeder auf und sah den Kaiser fragend an. Er schob ihr einen Fetzen unbeschriebenen Pergaments zu und beobachtete, wie unter ihren flinken Fingern die Skizze eines galoppierenden Pferdes mit einem wirrhaarigen Reiter entstand. Daneben zeichnete sie sechs kleine Halbmonde.
Karl runzelte die Stirn, trat einen Schritt zurück und forderte Ezra auf, sich gerade hinzustellen. Sie konnte seinen Blick auf ihrer Mitte beinah körperlich spüren. Es war sinnlos, den Bauch einzuziehen, aber sie tat es dennoch. Karl sprach sehr lange nicht. Unsicher, ob er die Symbole richtig gedeutet hatte, tunkte sie
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