Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
die Feder wieder in die Tinte. Er hielt sie auf.
    »Lass sein!«, bemerkte er scharf. »Du hast gegen meinen ausdrücklichen Befehl verstoßen! Und jetzt erdreistest du dich gar, mich anzubetteln, dich nach sechs Monaten als Architectulus wieder an meinem Hof aufzunehmen?«
    Sie nickte unglücklich.
    »Warum sollte ich dem Ungehorsam Gnade gewähren?«
    Ohne die Feder loszulassen, zeichnete Ezra rasch mit beiden Händen die Umrisse einer Kuppel in die Luft. Schwarze Tinte rann ihren rechten Arm hinunter und tropfte auf den Boden. Schnell legte Ezra die Feder auf den Tisch und versuchte, mit ihrem Schuh den Fleck auf dem Stein fortzuwischen. Wie ihre Angst wurde er immer größer.
    Karl schüttelte angewidert den Kopf und wandte sich um. »Mein Architectulus hat sich und diesen Raum besudelt«, schnaufte er die Wand an. »Er zeigt mir eine Wölbung, die ich nicht zu sehen wünsche und die er als mein Architectulus nicht zur Schau tragen darf. Er möge sie als ein anderer andernorts loswerden.«
    Der Kaiser drehte sich wieder um und sah Ezra in die Augen: »Meister Odo hat mir noch keine Zeichnung für das Lehrgerüst der Kuppel vorgelegt. Er behauptet, es sei zu kompliziert. Du, Architectulus … «, er trat auf Ezra zu und stieß einen Zeigefinger an ihre Stirn, als wollte er das schwarze Mal in ihren Kopf hineindrücken, »… du wirst mir diese Zeichnung herstellen. In diesem Winter fern meines Hofes. Ich gebe dir sechs Monde und keinen Tag länger.«
    Ezra atmete tief durch, griff zur Feder und malte, dem Zittern ihrer Finger zum Trotz, in perfekten Minuskeln ein Wort unter die Reiterzeichnung: Danke.
    Karl unterdrückte ein Lächeln. Er selbst hätte es nie vermocht, binnen eines Tages in dieser Schrift ein Wort so kunstvoll zu schreiben. Dieses aus Bagdad stammende Geschöpf hatte nur einen flüchtigen Blick auf die neuen Zeichen geworfen und sie sich umstandslos zu eigen gemacht. Ein außerordentliches Talent, das weder einer Schwangerschaft noch einer Geburt zum Opfer fallen durfte. Dem Mädchen sollte es in seinem selbst gewählten Exil an keiner Notwendigkeit mangeln. Dafür würde er sorgen. Er verzog das Gesicht und grollte: »Und jetzt geh mir aus den Augen, bevor ich mich anders besinne!«
    porto venere, italien
    Isaak saß mit dem Elefanten immer noch in Italien fest. Der Alltag an der ligurischen Küste ließ sich zwar etwas angenehmer verbringen als im heißen Tunis, aber das Ziel seiner Reise erschien ihm noch genauso weit entfernt. Wie nur sollte er das gewaltige Tier über die Alpen schaffen? Zumal Reisende berichteten, bereits im Oktober über tief verschneite Pässe gezogen zu sein. Wie viel Kälte vertrug ein Elefant? Niemand konnte Isaak diese Frage beantworten, nicht einmal ein anderer Fernhändler, der soeben aus Indien eingetroffen war, dem ursprünglichen Heimatland des Tiers. Isaak verwarf den Gedanken, aus Fellen eine riesige Decke nähen zu lassen. Ein solcher Wintermantel würde den Elefanten nicht vor erfrorenen Sohlen schützen und ihn auch nicht davor bewahren, von vereistem Pfad in einen Abgrund zu stürzen. Wenn überhaupt, war erst im Frühjahr an die Weiterreise zu denken. Isaak ließ sich also mit seiner Delegation und Abul Abbas am Fuße eines Alpenpasses in der Heimatstadt des Eusebius von Vercelli nieder. Er sandte Boten nach Aachen aus, die den Kaiser über das Winterlager des schwerfälligen Geschenks informieren sollten. Um sich die Langeweile zu vertreiben, vertiefte sich Isaak in den Koran, den er im Auftrag des Kalifen Ezra zukommen lassen sollte. Diese Lektüre sowie seine erzwungene Unbeweglichkeit brachten den umtriebigen Fernhändler dazu, über das Reisen, das Leben an sich und dessen Möglichkeiten nachzudenken. Wie war doch alles vom Zufall abhängig, von dem der Geburt, von dem des Glaubens, des Standes, des Wissens, des Glücks, der spontanen Entscheidung und des Rüstzeuges. Wie nahe er sich oft den Menschen anderer Religionen fühlte, und wie tief doch manches Mal die Gräben waren. Diese zu überwinden hatte sich Isaak stets auf seinen Reisen bei Verhandlungen über Genehmigungen, Zölle und Preise mühen müssen, was ihm nicht immer gelungen war. Aber er hatte überlebt, anders als die beiden armen Diplomaten des Kaisers.
    Als der Schnee im Frühjahr geschmolzen war, hatte der Mann der langen Wege das Ergebnis seiner Philosophie in einem kurzen Satz zusammengefasst: Das Leben ist die Reise des Geistes durch die Verästelungen der Möglichkeiten.
    Eine

Weitere Kostenlose Bücher