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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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dieser Möglichkeiten bestand jetzt darin, sich mit dem Elefanten und dem nötigen Gottvertrauen auf die Serpentinenpfade der Alpen zu begeben. Er würde es wagen.
    prüm, ende märz 802
    Die Winter in Aachen hatten Ezra nicht auf das Klima im Eifelgau vorbereitet. Nie zuvor hatte sie eine solch schneidende Kälte erlebt wie an jenem Tag im Februar, an dem ihre Tochter zur Welt kam. Das war der Tag, an dem sie fast gestorben wäre.
    Da hatte sie schon drei Monate in der Hütte von Marias Eltern verbracht und sich immer noch nicht an die Enge und den entsetzlichen Gestank gewöhnt. Im Winter teilten sich neun Menschen mit vier Ziegen, einer Kuh, einem Schwein und einer Hühnerschar den einzigen Raum, in dessen Mitte das Feuer unablässig brannte und qualmte, in den kein Tageslicht drang und der selbst nachts nicht zur Ruhe kam. Ezra schlief schlecht, und wenn sie aus dem ständig wiederkehrenden Traum erwachte, in dem sie durch die weiten, stillen und sauberen Zimmer ihres Bagdader Hauses wandelte, begann sie augenblicklich zu würgen. Meistens eilte Marias Mutter Anni sofort herbei, um ihr zu helfen, was Ezra ebenso tief beschämte wie die Tatsache, dass ihr das beste Lager gegeben worden war. Sie sah, wie schwer Frau Anni, Maria und ihre Schwestern den ganzen Tag über arbeiteten, Kinder und Tiere versorgten, molken, kochten, Brot buken, Kleidung ausbesserten und versuchten, im grausamen Durcheinander des Hauses eine gewisse Ordnung zu halten. Und dann kümmerte sich die verhärmte Frau Anni des Nachts auch noch um einen ungebetenen schwangeren Gast. Den sie im Übrigen ständig pries, was Ezra noch unangenehmer war, zumal sie nicht wusste, wie sie sich nützlich machen konnte. Sie verstand nichts vom Feuermachen, Kochen, Nähen, Putzen oder Melken, aber sie war bereit, dies alles zu erlernen. Maria brach in Gelächter aus, als Ezra fragte, was sie denn tun könne, um zu helfen.
    »Du hilfst mehr als genug«, sagte sie. »Seitdem du hier bist, müssen meine Eltern und meine Schwestern nicht mehr hungern. Früher gab es nur Brei, Brot, Bohnen und Erbsen und das auch nicht immer. Meine Brüder schicken zwar ständig Geld aus Aachen , vertrauen es aber meistens den falschen Reisenden an, wie ich jetzt erfahren habe. Zum ersten Mal seit langer Zeit können meine Leute wieder Fleisch essen und Bier trinken.«
    Ezra sah sie fragend an.
    »Die Körbe«, sagte Maria eindringlich. »Die von der Abtei. Da ist alles drin, was wir zum Leben brauchen. Und mehr noch, Stoffe, Decken, Rindertalg und Werkzeuge. Sogar kostbare Lichte, stell dir vor. Auch Dinge, von denen wir nicht wissen, wozu sie dienen.« Sie zog einen Weidenkorb unter dem Tisch hervor und schob das Licht näher heran. »Kannst du uns sagen, was wir damit anfangen können?«
    Ezra blickte auf Pergamentrollen, angespitzte Federn und geschlossene Dosen, die zweifellos Tinte enthielten. Sie wurde bleich. Nichts an diesem Hof bleibt geheim. Der Kaiser wusste, wo sie sich aufhielt. Er kümmerte sich um sie und ihre Gastgeber. Und er erinnerte sie an ihre Pflicht.
    »Etwas Schlechtes?«, fragte Maria beunruhigt.
    »Nein, etwas Gutes. Es ist für mich«, sagte Ezra. In ihrem Leib hatte ein seltsames Ziehen eingesetzt. Qualm biss ihr in die Augen. Ihre Ohren schmerzten von den Schleifgeräuschen, die aus der Ecke kamen, wo der Vater seine Sense schärfte. Ein schreiendes Kind zog an Marias Rock, ein anderes schlug unablässig mit einem Meißel gegen den Kessel auf dem Feuer, eine Ziege meckerte, ein Huhn flatterte umher, und die Kuh ließ unter bedeutungsvollem Muhen einen riesigen Fladen auf den Boden aus fest getretenem Lehm fallen.
    Ezra erhob sich mühsam. Sie brauchte Ruhe. Sie musste nachdenken und dabei frische Luft in ihren Körper einziehen lassen. Vielleicht würde sich dann das Kind beruhigen, das in ihrem Körper just den Tanz der Derwische aufführte. Maria und ihre Mutter flehten sie an, im warmen Haus zu bleiben, doch Ezra war nicht aufzuhalten. Sie zog sich Fellschuhe und eine wollene Jacke an, hängte sich ihren Marderpelz um, setzte eine Pelzmütze auf und lehnte mit solcher Bestimmtheit jegliche Begleitung ab, dass die Frauen sie gehen ließen.
    Sie kam nicht weit.
    Schon nach wenigen Schritten glitt sie auf dem von Schnee frei geschaufelten eisglatten Weg aus und stürzte den steilen Hang hinunter, bis sie in einem Gestrüpp hängen blieb. Sie wollte Hilfe herbeirufen. Doch als sie den Mund öffnete, fuhr ihr Eiseskälte in den Schlund und schnitt ihr

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