Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
den Atem ab. Da setzten ihre Wehen ein. Ich sterbe in einer weißen Wüste, dachte sie und verlor das Bewusstsein.
Später erfuhr sie, dass sie tatsächlich beinahe gestorben wäre. Ebenso wie ihr Kind, das so ungestüm in die Welt entlassen werden wollte. Maria und ihre Angehörigen schafften es nicht einmal mehr, Ezra ins Haus zurückzuschleppen. Mitten im tiefsten Eifelgauwinter wurde ihre Tochter auf dem Marderfell unter dem Holunderbusch geboren.
Wochenlang schwankten Mutter und Kind zwischen Leben und Tod. Frau Anni überließ ihre Arbeit den Töchtern und kümmerte sich ausschließlich um die Genesung von Ezra und dem Kind. Der heilkundige Mönch, den das Kloster Prüm schickte, gab die Schwerkranken für verloren. Er taufte den Säugling auf den Namen Dunja, den von Theresas Mutter, wie Maria ihm sagte, und erteilte beiden die Letzte Ölung. Der Abt sandte ein Schreiben betrüblichen Inhalts an den Kaiserhof. Die bitter benötigten Körbe der Abtei blieben fortan aus. Alle im Haus beklagten den scheinbar unausweichlich bevorstehenden Tod von Mutter und Kind, doch Frau Anni verzagte nicht.
»Die im Schatten des Hollerbuschs Leben geben oder dort geboren werden, sind gesegnet«, sagte sie. »Die Muttergottes wird ihre Hand über Theresa und Dunja halten.«
Da Mutter und Kind schließlich tatsächlich genesen waren und der heftige Schneefall nachgelassen hatte, musste der Heiligen jetzt Tribut gezollt werden. Sämtliche Bewohner der kleinen Hütte machten sich also in einem feierlichen Zug zur Goldenen Kirche auf, die Papst Leo auf seiner Rückreise von Paderborn zwei Jahre zuvor geweiht hatte. Ihre Bezeichnung verdankte die schlichte Holzkirche dem goldenen Schrein, in dem eine der kostbarsten Reliquien der Welt aufbewahrt wurde, die Sandalen Jesu.
Während sich Marias Familie vor dem Schrein niederwarf und sich alle bekreuzigten, blieb Ezra mit ihrem Kind im Arm stehen und schaute nach oben. Es gab keine Kuppel, nur viele Verstrebungen, mit denen das weite Holzdach gestützt wurde. Schon vom Hang aus hatte Ezra die dicke Schicht nassen schweren Schnees gesehen, die zwar hinabzurutschen drohte, aber auf dem Kirchendach wie fest gekleistert erschien. Erstaunlich, wie das Fachwerk diese gewaltigen Kräfte auffängt, dachte sie und schrak kurz zusammen, als sich eine Schneewechte geräuschvoll löste und derart polternd niederkam, als wäre sie aus Granit. Aber Steine wären oben geblieben, fiel ihr ein, denn der Mörtel hätte sie festgehalten. Unser Mörtel, unsere capella und unsere Kuppel, für die ich noch stets kein angemessenes Lehrgerüst ersonnen habe. Die Zeit wird knapp. In wenigen Wochen erwartet mich der Kaiser mit einer Zeichnung zurück.
Sie legte den Kopf in den Nacken, studierte die Anordnung von Balken, Verstrebungen und Stützen und hatte doch nur den Aachen er Bau im Sinn. Langsam schob sich ein Bild vor ihr geistiges Auge. Mit einem Male sah sie klar und deutlich das Lehrgerüst. Sie wagte kaum zu atmen, so überwältigend war die plötzliche Erkenntnis.
Ihr Vater hatte recht gehabt! Es war ganz einfach. Sie würden keine aufwendige Struktur herstellen müssen, keinen Holzturm, der vom Boden des Oktogons hinaufragte und die Säulen bedrohte; sie brauchten keine Unmengen an Holz herbeizuschaffen.
Wir waren von Blindheit geschlagen, dachte sie, haben das, was wir ständig vor Augen hatten, das Naheliegende, nicht erkannt. Erst hier in der Ferne vermag ich zu sehen. In Prüm, wo die Zimmerleute herkommen, die vor Jahren bereits die Grundlage für das einzig mögliche Lehrgerüst geschaffen haben. Diese muss jetzt nur verstärkt und mit einer riesigen Holzschale bedeckt werden. Dann kann die Kuppel gemauert werden. Danke, rief sie stumm ihrem Vater in der anderen Welt zu, danke für diese Eingebung!
Die Menschen in der Kirche bildeten ehrfurchtsvoll einen kleinen Kreis um die Frau, die so knapp dem Tode entronnen war und mit ihrem Kind auf dem Arm unverwandt nach oben schaute. Ihre Lippen bewegten sich. Offensichtlich hielt sie Zwiesprache mit ihrem Schöpfer, um ihm für ihre Heilung zu danken. Ihre Entrückung wich auch nicht nach der Messe, als Abt Assuerus auf sie zutrat und sie herzlich begrüßte. Der Kirchenmann war neugierig auf die geheimnisvolle Frau, deren Wohl dem Kaiser so sehr am Herzen lag, die aber dennoch nicht dem Hof angehörte. Jetzt glaubte er zu begreifen. Eine solch außerordentliche Schönheit hatte der Mann, dem er bei dessen Jagdausflügen ins Eifelgau öfter die
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