Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
von oben betrachtet; der Wind hatte an ihrem Haar gezerrt und ihr weite Sicht auf dunkle Wälder, frisch gepflügte Felder, schneebedeckte Berge, verschiedenfarbige Gewässer mit bunten Inseltupfern, fruchtbare Landstriche und Wüsten gegeben. Nie zuvor hatte sie sich so frei, leicht und unbekümmert gefühlt. Ewig hätte sie so weiterfliegen können. Doch dann setzte sie der Vogel sanft in einer kleinen Oase ab, die von drei sich leicht im warmen Winde wiegenden Palmen überragt wurde. Und von einem einzigen hohen Gebäude neben ihnen. Es war leuchtend rot verputzt und von einer weiten Kuppel gekrönt. Zweifellos ein Gotteshaus, aber eines, wie Ezra es noch nie gesehen hatte. Hier stand keine Moschee, keine oströmische Basilika, keine fränkische Kirche, sondern ein Bauwerk, in dem Elemente all dieser Glaubensrichtungen harmonisch zu einer Einheit zusammengefügt waren. Langsam umrundete Ezra das Gebäude, nahm mit geschultem Blick jedes Detail in sich auf. Sie näherte sich dem offenen sechzehneckigen Rundgang und ging auf ein wuchtiges Portal aus Bronze zu. Mit ihren Händen umschloss sie einen Knauf in Form eines Wolfskopfes. Die Tür ließ sich erstaunlich leicht öffnen. Ezra blieb auf der Schwelle stehen und lugte ins Innere, in einen höhlenartigen Raum von majestätischer Düsternis, in dessen Mitte ein großer Tisch aus Stein stand. Sie ging unter einem Bogen hindurch und blickte in ein hoch aufragendes Oktogon. Die Sonnenstrahlen, die sich in den oberen großen Rundbogenfenstern brachen, ließen den Bereich unter der ausgemalten Kuppel hell aufleuchten und verliehen den übereinandergestellten verschiedenfarbigen Säulen in den Galerien einen märchenhaften Schimmer.
Für das Seltsame, das in ihr vorging und sich dann ereignete, fehlten Ezra Worte und Erfahrung. Ihr Leben lang hatte sie das Alleinsein der Gesellschaft anderer vorgezogen. Doch zu ihrer eigenen Überraschung sehnte sie sich jetzt nach einem verständigen Menschen, mit dem sie das Erlebnis in diesem eigenartigen Wüstenturm teilen konnte. Kaum hatte sie dieses gedacht, als sie tatsächlich eine Gegenwart spürte, eine menschliche Präsenz. Sie sah sich erfreut um. Hinter einer Säule trat ein Mann hervor, nicht viel größer als sie selbst. In der Dunkelheit konnte sie seine Züge nicht erkennen, nur dass er von schlanker Gestalt war und offensichtlich fränkische Tracht trug. Er schien nicht viel älter als sie selbst zu sein. War er gleich ihr auf einem Vogel hierhergeflogen? Für ihn, den willkommenen Fremden in der Wüste, würde sie ihr Schweigen brechen. Es gab so viel zu sagen. Sie öffnete den Mund, doch der Jüngling kam ihr zuvor und fragte mit leiser angenehmer Stimme: »Ist es nicht viel eindrucksvoller als das Chrysotriklinium?«
Schnaufendes Schnarchen zerfetzte den Traum. Ezra hatte sich mit einem Ruck aufgesetzt.
Die wohlige Wärme, die sie soeben noch durchströmt hatte, war der Kälte des fränkischen Frühlingsmorgens gewichen. Ezra war zitternd aufgestanden, hatte sich den Marderpelz fest um die Schultern gezogen und den Unterstand verlassen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie immer noch den Turm in der Wüste, aber seine Konturen schienen langsam zu verblassen. Was hätte sie jetzt für ein Stück Papyrus, für eine große Wachstafel gegeben! Sie musste zeichnen, schnell, bevor sich das Traumbild aufgelöst hatte.
Da stand sie schon an der feuchten, glatt gewalzten Sandfläche neben der kleinen Holzkirche. Sie griff nach einem umherliegenden Stöckchen und begann, schnell und konzentriert zu arbeiten.
Bis sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Anders als in ihrem Traum war sie diesmal nicht beglückt über die Gegenwart eines anderen.
Unwillig schüttelte sie die Hand ab, trat einen Schritt vor und wandte sich um. Vor ihr stand ein hochgewachsener kräftig gebauter Mann in einfacher, aber sauberer fränkischer Kleidung. Er trug sein Haar kurz und mochte im Alter ihres Vaters sein. Die lang herunterhängenden Schnurrbartenden hätten auch ihm ein mürrisches Aussehen verliehen, wenn er nicht gelächelt hätte.
»Was bist du?«, fragte er mit überraschend heller Stimme, »eine Maid oder ein Jüngling? Warum trägst du unter deinem Fell das Kleid eines Sarazenen? Arbeitest du hier? Für wen? Nimm die Haare aus den Augen, wenn dein König mit dir spricht.«
Ezra verstand die freundlich klingenden fränkischen Laute nicht. Durch ihren Zottelvorhang starrte sie den Fremden an. Nicht verängstigt, sondern verärgert,
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