Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
eurer dortigen Glaubensgenossen besuchen.«
»So etwas gibt es dort?«
Gehört hatte Isaak davon zwar noch nie etwas, aber das lag schließlich in der Natur von geheimen Zusammenkünften. Er zweifelte nicht daran, dass die alten Götter unter den Hunderten oder Tausenden auf der Aachen er Baustelle noch eine Anhängerschaft hatten. Also nickte er.
»Wenn das so ist … «, überlegte Alboin.
Isaak schloss erleichtert die Augen. Er hatte gewonnen. Jetzt sollten sie ihm nur möglichst schnell die Fesseln abnehmen, denn in dieser unbequemen Lage würde er nicht gut schlafen können.
»Ihr könnt dort zeigen, wozu Menschen langobardischer Herkunft fähig sind«, sagte er müde. »Zieht diese wunderbare Straße südwestwärts weiter bis nach Aachen . Ihr könnt die große Baustelle nicht verpassen. Melde dich dort bei dem Baumeister Iosefos aus Konstantinopel, Alboin, und sag ihm, mit eurer Ankunft ist er seiner Sorge um tüchtige Schmiede enthoben. Und jetzt löse mir bitte die Stricke. Ich muss schlafen. Ach ja, und sage Iosefos auch noch, sein alter Reisegefährte Isaak jage dem Wolf, der sie im Wald überfallen hat, die Beute gerade wieder ab.«
»Und unsere Frauen und Kinder?«, hörte Isaak.
» … wird euch der König wiedergeben, wenn er mit ihnen eingetroffen ist«, murmelte er, während Hände seinen Körper von störenden Strängen befreiten. »Versprochen.«
Gegen Geiseln, die nicht vom Hof ernährt werden mussten, sondern vor Ort Meisterschmiede zu Höchstleistungen anspornten, würde Karl gewiss nichts einzuwenden haben.
mitte dezember 795
Der Läufer im Tretrad stolperte, das Seil schwankte, und ein mächtiger Eckstein, der mit dem Hebezeug in zwölf Fuß Höhe auf dem Rand der Mauer abgesetzt werden sollte, begann, bedrohlich zu taumeln.
»Fort! Fort!«, brüllte Iosefos.
Sein Schrei übertönte die Zurufe der Arbeiter und die dumpfen Schläge der Vorschlaghämmer, mit denen Steinbrecher nahebei riesige Brocken zertrümmerten. Er war lauter als der helle Klang unzähliger Meißel, als das Surren, Sägen, Schaben, Hämmern, Klopfen und Knarzen auf der Baustelle, doch Ezra hörte die Warnung des Vaters nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf Lucas gerichtet, der auf einem Außengerüst an einer ferneren Ecke des Sechzehnecks mit Odo in einen offenbar heftigen Streit geraten war. Sie flehte Allah an, den beiden eine Einigung zu versagen. Vielleicht würde Lucas dann wie früher endlich wieder zu ihr kommen und sich Luft machen über die ungerechte Behandlung durch seinen Vater oder über dessen Weigerung, die Vorschläge des Sohnes zu berücksichtigen. Wenn Lucas sie nur wieder zur Kenntnis nahm, würde sie schon den Weg zur alten Vertrautheit zurückfinden. Seit dem Vorfall mit Heda und dem Kind hatte sich der Sohn des Baumeisters gänzlich von ihr abgewandt und nur dann ein Wort an sie gerichtet, wenn es unumgänglich war. Angesehen hatte er sie dabei jedoch niemals mehr.
Vor Trauer, ihren einzigen Freund an ein so dummes Missverständnis verloren zu haben, hatte sich Ezra immer weiter in sich selbst zurückgezogen. An dem, was um sie herum geschah, zeigte sie nicht das geringste Interesse. Ja, sie nahm kaum den Jubel wahr, der an der Baustelle aufbrandete, als aus dem eingetroffenen Beuteschatz der Awaren längst fällige Zahlungen beglichen wurden. Während alle anderen daraufhin emsiger arbeiteten, vernachlässigte sie ihre Pflichten, und in ihre Zeichnungen schlichen sich Fehler ein.
Dunja erkannte die ersten Liebesqualen der heranwachsenden jungen Frau. Ihre Bemühungen, das Mädchen zu trösten und zu beraten, scheiterten an Ezras Weigerung, ihren Kummer in Worte zu fassen, nicht einmal in schriftliche. Daraufhin versuchte Dunja, Iosefos auf Ezras Verfassung aufmerksam zu machen, doch der Baumeister hatte anderes zu tun, als sich um die Launen einer Tochter zu kümmern, die sich gefälligst wie ein Sohn zu benehmen und auf weibliche Gefühlsregungen zu verzichten hatte.
Bis eben zu jenem Augenblick, als sein Schrei nicht zu Ezra durchdrang. Sie blieb einfach stehen, als der mächtige Quader aus der Höhe am Tretrad vorbei hinabsauste und zu Boden donnerte. Staub und Sand wirbelten auf.
»Ezra!«, brüllte Iosefos, sprang vom Gerüst und stürzte auf die Unglücksstelle zu. Seine Knie begannen erst zu zittern, als er sah, dass der Stein seine Tochter knapp verfehlt hatte. Zusammengesunken vor Schreck, lag Ezra staubbedeckt neben dem großen Blaustein. Iosefos hockte sich neben sie hin
Weitere Kostenlose Bücher