Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
werden.
Gar nichts wollte sie jetzt tun, nur allein sein und in Muße zum Reichtum der Vernunft zurückfinden.
Stille und Einsamkeit gab es allerdings nur in dem nahe gelegenen weitläufigen Wald, dort, wo angeblich der echte Wolf lebte. Der, vor dem die Handwerker ihren kleinen Kindern Angst machten, damit sich diese beim Spielen nicht zwischen den Bäumen verloren. Doch dieser Wolf war Ezras geringste Sorge. Keine wilde Bestie würde sich jetzt dem Forst bei Aachen nähern, wo Horden von Waldarbeitern laut lärmend unablässig Bäume fällten, um dem großen Bedarf an Holz für Gerüste, Leitern, Werkzeuge und zur Befeuerung von Schmieden, Öfen und Kochherden nachzukommen. Auf der Suche nach Stille würde sie also erheblich tiefer in den Wald eindringen müssen – eine Vorstellung, die sie keineswegs ängstigte.
Das war vor einem Jahr noch ganz anders gewesen. Als sie auf der Reise mit Isaak und ihrem Vater erstmals die dunkle Linie eines Waldes gesehen hatte, war sie zurückgeschreckt. Das Mädchen aus der weiten Ebene fand es damals unvorstellbar, heil aus einem solchen Labyrinth voller Holz und Grün herauskommen zu können. Grün ist die Farbe des Propheten, hatte sie sich vorgebetet, aber nicht einmal dieser Gedanke hatte ihr die Angst nehmen können, die sich bei jedem Knacken im Unterholz steigerte und ins Unermessliche wuchs, als sie des Nachts unter Nadeldächern lagerten und fremdartige Geräusche die Stille durchschnitten.
Isaak, der die Not des Mädchens erkannt hatte, begann, ihr den Wald zu erklären. Er zeigte ihr, welche Nahrungsmittel er hervorbrachte, auf welche Spuren sie zu achten habe und wie man bestimmte Gefahren erkennen und ihnen ausweichen konnte. Er berichtete von sächsischen Volksstämmen, für die der Wald Heimat und Sicherheit bedeutete, die Bäume verehrten und die das Herannahen gefährlicher Tiere oder Menschen dank der gleichen Achtsamkeit erahnten wie sie selbst in ihrer alten Heimat das Herannahen eines Sandsturms oder feindlicher Reiterbanden.
»Aufmerksamkeit, Zielstrebigkeit und Gottvertrauen«, hatte er ihr als das beste Rezept gegen Furchtsamkeit empfohlen. Ganz allmählich war ihre Angst geschwunden und seltsamerweise auch nicht zurückgekehrt, nachdem sie im Wald überfallen worden waren. Vielleicht lag es daran, dass das Schlimmste, was geschehen konnte, tatsächlich geschehen war, und sie es dennoch überlebt hatte.
Mutig schritt sie jetzt also immer tiefer in den Aachen er Forst hinein, markierte ihren Weg, wie Isaak es ihr gezeigt hatte, und betete still zu Allah. Als Ziel setzte sie sich eine Quelle oder einen Weiher, wo sie den Staub des Unfalls loswerden und sich für das Nachmittagsgebet reinigen konnte. Sie war dankbar für das ungewöhnlich milde Wetter dieser Jahreszeit; aus dem Vorjahr wusste sie noch, wie bitterkalt es im Norden werden konnte, und sie fürchtete sich vor dem ersten Schnee.
Sie entdeckte einen kleinen Wasserlauf zwischen moosüberwucherten Steinen und glatten Felsen. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, kam aber nicht nah genug an den Bach heran. Sie zog sich die Schuhe aus, um besseren Halt zu finden, kletterte über einen Felsen und hockte sich auf einen kleinen Vorsprung. Leider war er nicht breit genug, um sich hinlegen und mit den Händen Wasser aus dem Bach schöpfen zu können. Also beugte sie sich mit ausgestreckten Armen weit vor und versuchte so, das Wasser zu erreichen.
Ein Schrei löste sich aus ihrer Kehle, als sie das Gleichgewicht verlor und in den Bach stürzte. Dann hätte sie keinen Laut mehr ausstoßen können, denn die Kälte schnürte ihr die Luft ab. Das Wasser ging ihr nur bis zur Hüfte, aber ihre Füße fanden keinen Halt im Schlamm des Untergrunds. Sie rutschte, stieß mit einem Knie gegen einen scharfkantigen Stein, fiel hin und tauchte unter. Ihre Zähne klapperten, als sie sich wieder aufrichtete. Hastig schob sie sich das nasse Haar aus der Stirn, um besser sehen zu können. Doch es wollte ihr nicht gelingen, über die glitschigen Steine auf die Böschung hinaufzukommen.
»Greif zu!«, hörte sie plötzlich eine weibliche Stimme.
Erschrocken blickte Ezra zu dem Felsen über sich empor.
Unter einem Wasserfall weißblonden Haars konnte sie kein Gesicht erkennen, aber sie griff dankbar nach dem langen Stecken, der ihr hingehalten wurde. Mit dessen Hilfe schaffte sie es, über die Steine seitlich des Felsens die Böschung zu erklettern.
»Du siehst nicht so aus, als ob du ein Bad nehmen
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