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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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wolltest«, sagte die Stimme und setzte dann verwundert hinzu: »Weshalb trägst du Männerkleidung?«
    Ezra verstand nur einen Bruchteil der fränkischen Worte, aber sie erkannte die Sprecherin. Eigentlich hätte sie erschreckt davonlaufen müssen, denn das junge Geschöpf mit dem weißblonden Haar gehörte zum Hof des Königs. Aber Ezra war zu erschöpft und durchgefroren, um sich zu rühren.
    »Zieh sofort alles aus, sonst holst du dir den Tod«, sagte Gerswind, das junge Mädchen, das Ezra als Ziehkind des Königs kannte und das über die Nähstube des Palatiums herrschte. Sie zerrte Ezras Wams herunter. »Du kannst mir später erzählen, wer du bist, wo du herkommst und weshalb du dich als Mann verkleidest. Verstehst du, was ich sage?«
    Weil sie nur den letzten Satz verstanden hatte, schüttelte Ezra den Kopf.
    Gerswind lachte und wechselte ins Lateinische über, während sie Ezra half, sich aus der klatschnassen Kleidung zu schälen: »Du machst dich zum Mann, damit du auf der Baustelle Arbeit findest?«
    Ezra nickte.
    »Aber warum bist du dann hier im Wald?«
    Ezra räusperte sich.
    »Weil ich mich waschen wollte«, brachte sie heiser die ersten Worte seit undenklichen Zeiten hervor. Sie schloss die Augen. Es war eine Wohltat, wieder einmal Laute zu formen, eine Befreiung aus dem selbst gewählten Gefängnis der Sprachlosigkeit.
    »Leg dich hin!«, sagte Gerswind, »dein Blut muss wieder richtig fließen.« Sie zog ihren wollenen Umhang aus, wickelte Ezra darin ein und rieb das zitternde Bündel geschwind und kräftig ab.
    »Und jetzt frierst du«, sagte Ezra und wunderte sich über die Freude, die diese völlig überflüssige Äußerung in ihr auslöste.
    »Die Bewegung wärmt mich«, gab Gerswind zurück, »ich muss dir das Haar trocknen, setze dich auf und senke den Kopf.«
    Sie hob den Saum ihres Kleides an, kniete sich vor Ezra hin, sammelte den Stoff in beide Hände und bearbeitete damit Ezras dichten dunklen und sehr nassen Haarschopf.
    Als keine Feuchtigkeit mehr durch den Leinenstoff drang, ließ sie den Saum wieder fallen.
    Ezra hob den Kopf, ohne sich das wirre Haar aus dem Gesicht zu streichen. Entgeistert wich Gerswind zurück.
    »Ich … ich kenne dich«, stotterte sie. »Du bist der Sohn des Baumeisters!«
    Die sehr weiblichen Brüste, die aus dem offen klaffenden Umhang hervorlugten, straften ihre Worte und Ezras Nicken Lügen.
    »Du bist ein Mädchen!«, rief Gerswind.
    »Ich bin ein Mädchen«, wiederholte Ezra.
    »Und du kannst sprechen! Wie das?«
    »Weil ich jetzt die bin, die ich bin«, erwiderte Ezra und staunte über die Worte, die wie frisches Wasser aus einem Quell ohne jegliches Nachdenken aus ihrem Mund herausgeplätschert waren. Jahrelang hatte sie sich ausschließlich mittels ihres Wachstäfelchens verständigt, stets darauf bedacht, die Mitteilungen kurz und auf das Notwendigste beschränkt zu halten. Nie hatte sie es sich erlauben können, ein unüberlegtes Wort in die Welt hinaus zu entlassen. Bis jetzt.
    »Wer bist du?«, fragte Gerswind.
    Ezra erhob sich mühsam, ließ den Umhang von den Schultern gleiten, breitete die Arme aus und erwiderte, nackt vor Gerswind stehend: »Sag du es mir.«
    »Kein Sohn«, stellte Gerswind fest, griff nach dem langen wollenen Tuch und legte es Ezra wieder um. Während sie die nasse Männerkleidung einsammelte, auswrang und in ihrem Weidenkorb verstaute, sagte sie: »Du musst schnell heim und dir etwas Warmes anziehen. Schau, da sind deine Schuhe. Wenigstens die sind trocken. Zieh sie an, wir gehen.«
    »Das ist unmöglich«, flüsterte Ezra, »so kann ich mich nirgendwo sehen lassen.«
    Gerswind trat einen Schritt vor, strich Ezra mit den Fingern das Haar aus der Stirn und kämmte es glatt nach hinten.
    »Mit nacktem Gesicht wird dich keiner erkennen«, sagte sie.
    Ezra rührte sich immer noch nicht vom Fleck.
    »Stell dir doch einfach vor, mein Umhang wäre eine Tarnkappe«, sagte Gerswind. »Dann wird dich auch keiner wahrnehmen.«
    »So etwas glauben doch nur Kinder«, erwiderte Ezra unwillig.
    »Und genau deshalb werden sie oft genug übersehen«, sagte Gerswind fröhlich. »Vor allem, wenn die Aufmerksamkeit der Menschen auf etwas anderes gerichtet ist. Dann kannst du dich im Wald zu einem Baum unter Bäumen machen. Und dann könnte sogar ein Wolf unbemerkt durch den Schafstall laufen, das heißt, wenn er darauf verzichtet, Unheil anzurichten. Aber weil das gegen seine Natur ist und er natürlich ein Schaf reißen wird, nimmt man ihn eben

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