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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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gutheißen, einer unter diesen vielen zu sein. Andererseits hatte er die Sächsin Gerswind als Werkzeug erwählt, um sie, Ezra, vor dem möglichen Tod durch Erfrieren zu erretten. Zudem war Ezra als Muslima verpflichtet, seinen Namen zu verbreiten.
    »Allah«, flüsterte sie.
    »Wie betest du zu ihm?«
    Da es bereits zu dämmern begann, hatte Ezra die Orientierung verloren.
    »Wo ist Osten?«, fragte sie.
    Gerswind deutete auf den Stein.
    Ezra stellte sich davor. Erst bewegte sie wie sonst auch nur stumm die Lippen, aber dann löste sich plötzlich der arabische Singsang aus ihrer Kehle, und das tat unendlich gut. Voller Hingabe warf sich Ezra auf die Knie, breitete die Arme aus und beugte sich tief, bis Stirn und Hände den Waldboden berührten. Im Freien bedurfte sie keiner Gebetsmatte, da die Erde rein war und es Allah wohlgefällig, wenn man sich ihm im Staub unterwarf. Gerswind hatte recht. Sie musste Allah für ihre zweimalige Rettung danken. Und so sprach sie singend hintereinander das Nachmittags- und das Abendgebet.
    Erst als Ezra sich wieder erhob, sah sie, dass Gerswind immer noch in der islamischen Gebetshaltung am Boden verharrte.
    »Ich bin fertig«, sagte Ezra leise.
    Gerswind sprang auf.
    »Dein Gebet klingt gut«, sagte sie, »sehr feierlich und etwas traurig. Weil ich deine Sprache nicht kenne, habe ich in meiner nur gesagt: ›Allah danke, dass du deine Tochter gerettet hast.‹ Meinst du, das reicht?«
    Ezra trat vor und umarmte Gerswind.
    »Gewiss«, versicherte sie. »Allah kennt alle Sprachen und kann in jedes Herz blicken.«
    Gerswind sah zum Himmel.
    »Wir müssen uns eilen«, sagte sie, »es wird bald dunkel.« Sie lachte. »Das ist gut, denn dann wirst du noch unsichtbarer sein.«
    Während des raschen Marschs durch den Wald hing jede ihren Gedanken nach. Schließlich brach Gerswind das Schweigen: »Darf ich dich noch etwas fragen?«
    »Alles.«
    »Weshalb hast du nicht gemerkt, dass sich der Stein gelöst hat? Wenn alle anderen doch rechtzeitig weggesprungen sind?«
    »Lucas«, murmelte Ezra. Und dann sprudelte es aus ihr heraus. Zum ersten Mal in ihrem Leben erzählte sie einem Menschen von sich selbst, eine Geschichte von Wundern und Einsamkeit, von Verstellung und Wahrhaftigkeit, von Ehrgeiz und Versagen, von Freundschaft und Fehlschlüssen.
    Gerswind unterbrach sie nur einmal.
    »Prüm?«, fragte sie stirnrunzelnd, als Ezra von Heda berichtete. »Da kenne ich mich aus. Weißt du, wie die Familie der Frau heißt?«
    »Nein«, sagte Ezra, »sie schämt sich für das, was aus ihr geworden ist.«
    »Für das, was ihr dieser Fredo angetan hat«, versetzte Gerswind mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
    »Ja«, sagte Ezra, »aber seitdem Lucas denkt, dass auch ich ihr so etwas angetan habe, kennt er mich nicht mehr.«
    »Du liebst ihn«, stellte Gerswind fest.
    »Ich bin ein Mann.«
    »Du bist eine Frau. Wie ich.« Gerswind blieb stehen. »Entschuldigung«, sagte sie, riss Ezra den wollenen Umhang vom Leib und musterte im letzten Licht des Tages den weiblichen Körper.
    »Was tust du da?«
    »Ich habe deine Maße genommen«, antwortete Gerswind und reichte Ezra das Tuch zurück. »Heute geht es darum, dass dich niemand sieht, wenn wir zum Palatium zurückkehren, aber nächste Woche geht es darum, dass Lucas niemand anderen als dich sieht.«
    »Wovon sprichst du?«
    »Von dem großen Fest, das nach der Rückkehr des Königs gegeben wird. Von der Freundin, die mich dahin begleiten wird.«
    »Welche Freundin?«
    »Eine geheimnisvolle, wunderschöne junge Frau mit unverhülltem Gesicht, einem seltsamen dunklen Mal auf der Stirn und glänzendem, schwarzem Haar. Sie trägt ein Gewand … «, Gerswind überlegte kurz, ehe sie nachsetzte: »… in grüner Farbe, ja, es muss grün sein. Das alle ihre weiblichen Vorzüge zur Geltung bringt. Ihr einziger Schmuck wird das Leuchten in ihren graugrünen Augen sein. Und die Augen des jungen Lucas werden nur auf ihr ruhen.«

kapitel 7
    das gerüst
    Hat Gott einmal dem Menschen Unglück zuerkannt,
    Und hat dann dieser auch Gesicht, Gehör, Verstand,
    So macht er ihm die Ohren taub, das Herze blind,
    Zieht den Verstand aus ihm gleichwie ein Haar geschwind,
    Bis Er, wenn Er an ihm sein Werk vollendet hat,
    Verstand ihm wiedergibt; – der geht mit sich zu Rat.
    Drum frag, von dem, was eintritt, niemals, wie’s geschah;
    Denn alles hier ist nur durch Los und Schicksal da!
    Aus 1001 Nacht (die 782. Nacht)
    paderborn, herbst 795
    B edauere«, sagte Pfalzgraf Wicco,

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