Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Als die Sonne höher stieg, strömten sie herbei und säumten die Straße, die der lange Zug des Königs in absehbarer Zeit nehmen würde. Vereinzelte Reiter, die, aus der Vorhut ausgeschert, in Aachen eingaloppierten, wurden mit viel Beifall begrüßt und manch einer vor Begeisterung vom Pferd gerissen. Die Reiter gaben an die Schreier weiter, wo sich der Herrscher zu welcher Stunde gerade befand, und diese verkündeten es dann lauthals der Menge.
Ezra hatte sich keinen Platz am Straßenrand erkämpft, und sie hatte das Angebot ihres Vaters abgelehnt, mit ihm, Odo und Lucas feierlich gewandet auf der obersten Gerüstlage der künftigen Pfalzkapelle den Einzug des Königs zu erwarten.
Um dem ganzen Trubel zu entgehen, machte sie sich also in Richtung Wald auf, wo an diesem Festtage kein Baum geschlagen wurde. Da es nur wenige Nadelbäume gab, hatte der Wald mit dem Laub seine Undurchdringlichkeit verloren und erschien ihr licht, freundlich und zugänglich. Bei jedem Schritt raschelten vertrocknete Blätter unter ihren Füßen und niedergedrückte braune Überreste des im Sommer oft mannshohen Farns.
Ezra wusste, dass Gerswind mit den Töchtern des Königs Vorbereitungen für das große Fest am Abend treffen musste, und rechnete deshalb nicht damit, ihr an dem großen Felsen mit der abgerundeten Kuppe zu begegnen. Denn genau dorthin lenkte sie ihren Weg.
Die kleine Sächsin hatte diesen Ort die Stätte der Macht genannt; eine Stelle, an der sie mit sich und der Welt ins Reine kam, weil sie dort die Nähe von Göttern und Ahnen verspürte. Ezra glaubte weder an eine geheimnisvolle Kraft, die dem Stein innewohnen sollte, noch an Götter. Ihre eigenen Ahnen ergingen sich im Paradies, was sie ihnen mehr gönnte als das Warten auf eine Sterbliche im kalten fränkischen Forst. Es wäre doch traurig, dachte sie, wenn die Toten nichts Besseres zu tun hätten, als sich mit den Sorgen der Kurzlebigen auf Erden zu beschäftigen. Doch sie fand den Schutz des Felsens sehr geeignet, um dort Dhuhr, das längste Gebet des Tages, zu verrichten.
Die fahle Wintersonne stand hoch am Himmel. Es war die richtige Zeit, um mit Allah in Verbindung zu treten. Während sie in der Nähe anderer die Rakaas sonst meist nur dachte oder höchstens flüsterte, verspürte sie in der Stille des Waldes das Bedürfnis, laut zu ihrem Gott zu sprechen. Allah gegenüber, der alles sah und alles wusste, galt ihr Schweigegebot in Männerkleidung natürlich nicht.
»Im Namen Allahs, des Gnädigen und Barmherzigen, gelobt sei Allah, der Herr der Welten, der Herrscher am Tage des Gerichts. Dir allein dienen wir, und dich allein bitten wir um Beistand. Führe uns den geraden Weg, den Weg all derer, denen du Gnade erwiesen hast, die nicht deinem Zorn verfallen und die nicht irregehen.«
Sie sprach die erste Sure, die ihr in den Sinn kam, verbeugte sich, lobte Allah und warf sich nieder und betete mit einer Inbrunst wie seit Langem nicht.
Als sie sich wieder erhob, war viel Zeit vergangen, aber erfrischt, als wäre sie nach einem erholsamen Schlaf erwacht, machte sie sich auf den Heimweg.
Ihr beschwingter Schritt kam zu einem Halt, als sie am Waldesrand Hämmern und Sägen hörte. Neugierig, wer an diesem Tag den Festlichkeiten trotzte, folgte sie den Geräuschen.
Zwei Zimmerleute arbeiteten auf einem nahe gelegenen Hügel neben einem Scheideweg. Die beiden Männer, die sonst am Gerüst der Kirche zimmerten, winkten ihr zu und ließen ihre Werkzeuge sinken.
»Aber, aber, Architectulus«, begrüßte sie der Größere der beiden, gutmütig lachend, »weshalb erweist du deinem König nicht die Ehre?«
Ihr doch auch nicht, antwortete sie mit Gesten und deutete fragend auf die Balken eines Gerüsts, an dem die beiden arbeiteten. Wohl kaum für die capella , denn die dortigen Gerüste wurden vor Ort angefertigt.
»Was das hier ist?«, übersetzte der Kleinere ihre Zeichen.
»Ja, mein Junge, der König kehrt nicht nur mit Helden zurück. Es werden auch Männer dabei sein, die Böses getan und den Tod verdient haben. Morgen werden sie hier in der Luft reiten.«
Ezra schüttelte verständnislos den Kopf. An das barbarische Latein der Franken hatte sie sich offenbar immer noch nicht gewöhnt.
»Sie werden gehenkt«, erläuterte der Größere. »Wir zimmern hier einen Galgen, Architectulus.« Mit dem Daumen wies er auf den Wald hinter sich. »Früher wurden die Schurken einfach an den Bäumen aufgeknüpft, fertig. Aber König Karl findet, dass man diesen
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