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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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gar nicht reden.«
    »Gar nicht rede ich immer«, antwortete Ezra. »Wenn ich eine Frau bin, will ich auch sprechen.«
    Wieder einmal war ein unbedachter Satz aus ihr herausgesprudelt. Ihr wurde plötzlich sehr heiß. Was für Worte würde ihr Mund am Gehirn vorbei wohl auf dem Fest formen? Sie sollte Lucas verzaubern? Was hatte sich Gerswind nur dabei gedacht? Sie würde in seiner Gegenwart kein Wort hervorbringen können, vor seinem Blick, sei er noch so bewundernd, nur flüchten wollen. Und wenn sie dennoch zu ihm spräche, würde es fürchterlich werden, denn die Zunge, die Übersetzerin des Herzens, könnte sich in ihrem Fall durchaus als Verräterin betätigen. Ezra war nicht Herrin über ihr gesprochenes Wort.
    Also würde sie sich von Lucas fernhalten müssen. Mit wem aber sollte sie dann über welchen Gegenstand sprechen? Wenn sie schon redete, dann müsste ihre Rede besser sein als ihr Schweigen. Und das hielt sie für ausgeschlossen, denn anders als die schlagfertigen Töchter des Königs war sie gänzlich ungeübt in der Kunst des klugen unverbindlichen Gesprächs. Zudem wäre sie Schmeichlern und Neugierigen ausgesetzt, würde gewitzt antworten müssen, Wimpern und Ärmel flattern lassen und ständig auf der Hut sein, sich nicht zu verraten. Nein, sie wollte mit niemandem reden, sich nicht als Frau zur Schau stellen, zu späterer Stunde keinen gierigen Händen ausweichen müssen, die in den viel zu tiefen Ausschnitt ihres grünen Kleides greifen könnten. Vor allem wollte sie nicht über ihren Saum fallen. Schöne Weibchen gab es am Hof zuhauf. Das alles war nichts für sie; dagegen hatte sie sich doch schon vor Langem entschieden.
    Ezra sprang auf, verwuschelte sich mit den Fingern das Haar und riss sich das Frauengewand vom Leib.
    »Ich kann nicht«, erklärte sie. »Ich bleibe ein Mann.«
    Ohne ein weiteres Wort schlüpfte sie wieder in die knielangen, erdfarbenen Hosen, zupfte die Beinbinden zurecht, zog die Bundschuhe an und warf sich den wollenen langärmligen Kittel über. Als sie ihn gürten wollte, fiel ihr Wachstäfelchen zu Boden. Von ihrem Schemel aus griff Gerswind danach. Sie erhob sich und sah Ezra in die Augen, als sie ihr das kleine dunkle Viereck reichte.
    »Du hast Angst«, sagte sie. »Das verstehe ich. Auch ich habe mich jahrelang verstellen und als jemand anders ausgeben müssen. Man hätte mich sonst umgebracht. Erst als mich der König in Gnaden aufnahm, durfte ich wieder der Mensch sein, der ich bin.« Sie nickte zu dem grünen Stoff hin. »Morgen ist das Kleid fertig; übermorgen kehrt König Karl zurück. Er wird sich freuen, dass die Mauern seiner Kirche schon so hochgewachsen sind.«
    Gerswind lächelte, als sie die Tür entriegelte. Eine Enttäuschung war ihr nicht anzusehen. Sie schien weder eine Entschuldigung von Ezra zu erwarten, noch die unnütze Arbeit am grünen Kleid zu bedauern.
    »Ich bewundere deinen Mut, Ezra. Nie im Leben könnte ich auf so ein hohes, wackliges Gerüst steigen.«
    Es ist nicht wacklig, hätte Ezra gern geantwortet, aber in Hosen sprach sie nicht, es ist sehr stabil, weil die Balken, auf denen die Bretter liegen, tief in der Mauer stecken und durch Schrägstreben vor dem Abbrechen geschützt sind. Es ist ein wunderbares Gerüst, kräftig und völlig ungefährlich. Sobald die nächste Steinlage gemauert ist, wird wieder Holz aufgelegt, und so wandert unser Gerüst unaufhaltsam in die Höhe. Dort oben stünde ich jetzt gern, doch mein Vater lässt mich leider nicht mehr auf die Baustelle.
    Unschlüssig verharrte sie an der Tür. Sie wollte Gerswind für ihren Aufwand, für ihre Zuneigung und ihr Verständnis danken, konnte es aber nicht.
    Also griff sie zu ihrem Wachstäfelchen. Weil sie fürchtete, ein schlichtes Dankeswort könne angesichts ihrer Ablehnung als Hohn aufgefasst werden, schrieb sie stattdessen: irgendwann und hielt das Täfelchen Gerswind hin.
    Die lächelte noch einmal, sagte nur leise: »Danke für deine Gesellschaft, Ezra«, und zog die Tür sanft zu.
    Aachen stand ganz im Zeichen der Rückkehr des Königs. Schon beim ersten Tageslicht war die Stadt auf den Beinen, um alles für einen triumphalen Empfang vorzubereiten. Kot und Dreck verschwanden von den Straßen nahe dem Palatium, die Eingänge der Werkstätten wurden gefegt, und das Gerüst an der Baustelle war wie viele andere Gebäude auch mit Wimpeln, immergrünen Zweigen und bunten Bändern geschmückt. Die Menschen legten ihre Festtagskleider an, und alle Arbeiten ruhten.

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