Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Bild war zum Leben erweckt worden. Ihre Gedanken überstürzten sich. Sie verstand alles und begriff nichts.
Dies war Fredo, dies war der Räuber, der teuflische Mörder, der morgen in der Luft reiten würde. Ihre Zeichnung würde ihn dem am Waldesrand gezimmerten Gerüst ausliefern. Doch ihre toten Reisegefährten, ihren Koran und den Schatz des Kalifen brächte dies nicht zurück.
»Fort, Architectulus!«, wiederholte der Mann des Königs. »Aus dem Weg!« Er griff an Ezra vorbei, entwand Heda mit schnellem Griff das Messer und überwältigte sie. Das Kind wäre aus ihrem Arm geglitten und zu Boden gestürzt, wenn sich Ezra nicht rasch umgedreht und es aufgefangen hätte.
Die Frau wehrte sich nicht mehr. Still stand sie da und hob die inzwischen zusammengebundenen Hände wie zum Gebet dem gefesselten und vor Wut rasenden Mann entgegen. Sie lächelte glücklich und starrte ihn aus leuchtenden Augen so hingebungsvoll an, als wäre ihr ein Engel erschienen.
Ein Dämon ist in sie gefahren, dachte Ezra erschauernd, und der hat ihr die Sinne verwirrt.
»Fredo«, flüsterte Heda.
Der schüttelte wütend den Kopf. »Sie hat den Schatz«, fuhr er die Männer an. »Von einem ihrer Freier. Er hat es mir gesagt, bevor er neben mir auf dem Schlachtfeld verblutete. Seht im Haus nach! Da hat sie den Schatz versteckt. Ich schwöre bei Gott, sie ist schuld; sie soll sterben, nicht ich!«
Seine Worte echoten in Ezras Ohren, während sie den Kopf des Kindes aus der Decke befreite. Wie konnte der ganze Schatz bei Heda sein, wenn es doch drei Männer gewesen waren, die sie überfallen hatten? Wo waren die anderen? Hatte sich Fredo inzwischen seiner Kumpanen entledigt, um alles für sich zu behalten?
»Nein, nein!«, rief Heda erschrocken. Sie wich zurück, schien wie aus einer Ohnmacht zu erwachen. Schmerz und Unglauben zeichneten sich in ihrer Miene ab. Ihre Stimme überschlug sich. »Nein! Ich bin eine arme Frau. Ich weiß nichts von einem Schatz!«
Fredo spuckte aus. »Du falsche Schlange! Wo hast du das Gold, die Perlen und die Steine versteckt? Das heiße Eisen wird dich gesprächig machen. Und dann wirst du sterben!«
Nein, dachte Ezra, das darf nicht sein. Das Kind soll leben und die Mutter auch. Meine Zeichnung hat dieses Unglück herbeigeführt. Vielleicht hat der Imam in Bagdad doch recht gehabt. Vielleicht ist es tatsächlich verwerflich, das Leben abzubilden. Das habe ich getan und damit den Tod hergeführt. Ich bin schuld. Ich muss etwas tun.
Mit beiden Händen hielt sie der Mutter den Säugling hin und drückte ihn dann an die eigene Brust. Heda sollte das Kind bei ihr in Sicherheit wissen.
Der größere Scherge packte Ezra an den Schultern und schob sie fort.
»Das hier ist nichts für dich, Architectulus«, sagte er. »Fort mit dir!«
Dunja traute ihren Augen kaum, als ihr Ezra in der kleinen Kammer stumm den Säugling reichte. Sie nahm ihn aber entgegen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. In den langen Jahren, die sie Iosefos nun schon diente, hatte die bulgarische Sklavin gelernt, jeglicher Unwahrscheinlichkeit so gelassen zu begegnen, als wäre sie eine Muslima, die an die Unausweichlichkeit des Schicksals glaubte.
»Welch ein Gestank«, sagte sie, legte das Kleinkind aufs Bett und begann, es aus den dicken Stofflagen herauszuwickeln. »Du riechst übrigens auch nicht gut, Ezra, ich lasse warmes Wasser bringen.«
Ezra hätte über diesen Satz gelächelt, wäre sie nicht zu sehr mit anderen Gedanken beschäftigt gewesen. Wenn sie nackt in der Zinkwanne saß, konnte Dunja Erklärungen von ihr einfordern. Diese hielt plötzlich mit dem Auswickeln inne. Etwas helles, dünnes Viereckiges war aus den Falten des groben Stoffs gerutscht und zu Boden geflattert.
»Was ist das denn?«, entfuhr es Dunja. Sie rollte den von Fetzen umhüllten Körper des Kindes vorsichtig zur Seite und legte auf dem groben Bündelstoff eine dicke Polsterung aus weiteren Vierecken frei.
Ezra schlug eine Hand vor den Mund. Tränen schossen ihr in die Augen. Durch die Ritzen des Fensterladens fiel nur wenig Licht, aber Ezra hatte sofort erkannt, was den Säugling offenbar gegen Kälte hatte schützen sollen. Sie sammelte die Papiere auf und drückte sie an sich wie zuvor das Kind.
Das Wort Allahs war zu ihr zurückgekehrt, wenn auch nicht in aller Vollständigkeit. Ezra stieß den winzigen Fensterladen auf und besah sich die etwa zwanzig Seiten bei Licht. Sie waren sauber und unbeschädigt, stammten aus der Mitte
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