Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Lumpen ein Gerüst bauen soll. Zu viel der Ehre, wenn du mich fragst.«
»Aber wenn sie auf dem Hügel an einem Gerüst baumeln, können die Leute alles besser sehen«, wandte sein Kollege ein.
Und die dem Tod Geweihten können noch einmal weit über die Welt blicken, die sie verlassen müssen, dachte Ezra, das muss ein furchtbares Gefühl sein.
»Du kommst doch grad aus dem Wald«, sagte der Kleinere. »Ist dir da zufällig ein Wolf begegnet?«
Ezra schüttelte den Kopf und mühte sich, nicht allzu fragend auszusehen. Die Männer sollten sie schließlich nicht für dumm halten.
»Schade. Aber vielleicht treiben die Jäger ja noch einen auf. Es sieht immer besser aus, wenn neben den Gaunern noch ein Wolf hängt.«
Ezra wollte sich nicht vorstellen, wie so etwas aussah. Sie nickte den Zimmerleuten zu und eilte davon.
Um dem Getümmel auf den Hauptstraßen in Aachen zu entgehen, nahm sie einen kleinen Umweg in Kauf. Er führte sie durch das Viertel der Ärmsten der Armen, in dem die Ziegelabbauer inzwischen schon weit vorangekommen waren. Sie rümpfte die Nase. Hier stank es gottserbärmlich. Nicht nur der Geruch von faulen Eiern hing in der Luft, wie so oft in dieser Stadt der warmen Quellen, sondern es roch scharf nach Exkrementen und nach Verwesung. Offensichtlich hatte man den ganzen Dreck von den Hauptstraßen in die entfernter gelegenen Seitengassen verfrachtet.
Heimweh ergriff sie, eine unbändige Sehnsucht nach den sauberen breiten Straßen Bagdads, nach dem Luxus fließenden Wassers, das vom Tigris durch ein Kanalsystem zu den Wohnhäusern strömte, nach einer Luft, die von Myrrhe, Weihrauch, von Gewürzen und Ölen geschwängert war und in deren Duft sich am Ufer des Tigris der unverwechselbare Geruch gebratener Süßwasserkarpfen mischte. Wie winzig und unwirtlich war doch Aachen , wo sich die Bewohner auf engem Raum drängten und in dunklen Verschlägen, Grubenhäusern, wackligen Pfahlbauten oder notdürftig geflickten römischen Ruinen hausten! Wie viel großzügiger war die Runde Stadt in der Wüste, von der riesige Wohngebiete ausgingen, alle mit eigenen ausgedehnten Märkten, Moscheen und Verwaltungsgebäuden ausgestattet und selbst in den Armenvierteln gepflegt genug, um Nase und Augen des im Geheimen durch die Nacht streifenden Kalifen nicht zu beleidigen.
Ein lang gezogener Schrei aus einer Frauenkehle riss Ezra aus ihren Gedanken. Sie hielt inne. Harsche Männerstimmen mischten sich in lautes Geheule. Ezra beschleunigte ihren Schritt. Der Lärm kam aus dem Winkel, in dem Heda wohnte und den Ezra seit dem Vorfall mit Lucas nie wieder aufgesucht hatte.
Sie hastete um die Ecke.
Kreischend und mit den Füßen tretend, versuchte sich Heda vor der Tür ihres Hauses zweier Männer zu erwehren. In der rechten Hand hielt sie ein langes Messer gezückt, mit der linken drückte sie ein Bündel an die Brust. Ein dritter Mann stand mit dem Rücken zu Ezra. Er war an Hand- und Fußgelenken mit Stricken gefesselt und brüllte unablässig die gleichen Worte: »Sie hat ihn! Sie hat ihn! Sie hat ihn!«
Ezra wollte sich umdrehen, fortlaufen und Hilfe holen. Doch dann hörte sie es: einen gedämpften Klagelaut. Wie von einem eingesperrten Kleintier; einer Möwe, einer Katze. Oder von einem Säugling. Es drang aus dem Bündel an Hedas Brust und traf Ezra mitten ins Herz. Sie starrte auf das Bündel, das zerquetscht werden würde, wenn den Männern das gelang, was sie gerade versuchten, nämlich Heda gegen die Hauswand zu drücken.
Ohne zu überlegen, rannte Ezra los. Sie sprang zwischen die Kontrahenten, und nur der dicke Wollstoff des Kittels verhinderte, dass Hedas Messer ihren Arm ritzte. Schützend stellte sie sich vor die Frau mit dem dumpf heulenden Bündel. Ihr Atem ging sehr schnell.
»Fort, Knabe!«, schrie einer der Männer, den Ezra jetzt als einen der Wachen des Palatiums erkannte. »Das ist nicht dein Streit.«
»Der Zauberer!«, schrie Heda. Das Messer zitterte in ihrer Hand. »Er weiß, dass ich nichts habe!«
»Ein feiner Zeuge, der nicht sprechen kann«, gab der Scherge zurück.
Ezra hätte es in diesem Augenblick wirklich nicht gekonnt. Entgeistert starrte sie auf das Gesicht des gefesselten Mannes ihr gegenüber und rückte so nah an Heda heran, dass sie das Bündel an ihrem Rücken spürte. Vor ihr stand der Mann, dessen Gesicht sie gezeichnet hatte. Unverkennbar, trotz der verquollenen Augen und der langen schwarzblutigen Scharte, die sich über seine rechte Wange zog. Ein totes
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