Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
auszumachen. Xenia konnte sich doch nicht einfach in Luft aufgelöst haben!
Zumal sie soeben noch mit dem König und dessen Gefährtin Liutgard in ein offensichtlich angeregtes Gespräch vertieft gewesen war. Dabei hatte sie derart frohgemut gelächelt, dass Lucas in glückseliges Träumen verfallen war. Er hatte sich ausgemalt, Xenia sei der Posten als Hofdame der künftigen Königin angeboten worden, und sich in vielen Einzelheiten den künftigen Umgang mit ihr vorgestellt. Dass sie dem nicht abgeneigt wäre, hatte sie ihm durchaus zu verstehen gegeben. Doch jetzt war sie verschwunden.
Xenia war nicht nur unfassbar schön, sondern sie erschien ihm zudem klüger, gebildeter und wissbegieriger als irgendeine andere Frau am königlichen Hof. Ihrer zunächst wohl höflich gemeinten Frage nach seinem Aufgabenbereich folgten erstaunlich ins Detail gehende Erkundigungen über den Bau der capella . Das mochte daran liegen, dass sie aus einer Familie in Konstantinopel stammte, die viele Baumeister hervorgebracht hatte. Das Interesse an Zahlen, an Geometrie und an baulicher Harmonie könnte ihr demnach im Blut liegen. Erstaunlich, wie schnell sie begriffen hatte, dass beim Bau der Königskapelle überall die gleichen Größen wiederkehrten und die Maße des Aufrisses schon im Grundriss bestimmt worden waren. Sie hatte melodisch gelacht, als er ihr von den Sandskizzen ihres Vetters berichtet und diese mit einem Soßenfinger auf dem Tischtuch grob nachgezeichnet hatte.
»Ezra hat zwar ein Sechzehneck skizziert, aber er ist dabei von einem Quadrat ausgegangen, das wir auf genau sechsundneunzig mal sechsundneunzig Fuß festgelegt haben«, erläuterte er ihr, »acht Mal die Länge jener Latte von zwölf Fuß, mit der wir dann die acht Achsen des Sechzehnecks von Wand zu Wand bestimmt haben. Das Oktogon ist genau halb so groß, es misst achtundvierzig Fuß von einer Säule zur gegenüberliegenden; alle weiteren Maße ergeben sich wie von allein, genauso hat es sich der König auch gewünscht. Die Kapelle ist also zwölf Latten lang; alle Seiten des Achtecks machen zusammen auch einhundertvierundvierzig Fuß. Wir halten uns durchgängig an dieses Maß, Xenia, und werden beispielshalber die Kuppel in sechsundneunzig Fuß Höhe schließen.« Außer Atem und unsicher, ob sie die Bedeutung dieser Zahlen erfasst hatte, setzte er hinzu: »Also sind alle Größen durch zwölf teilbar.«
»Die Zahl des himmlischen Jerusalem«, bemerkte Xenia und setzte hinzu: »Der Stadt der Apokalypse, die doch gleichfalls ein Tempel gewesen sein soll.«
Ihr Zuhören hätte ihm hinreichend genügt, aber mit dieser Kenntnis hatte sie ihn vollends betört. Sie entzückte ihn noch mehr, als sie den künftigen Aachen er Kuppelbau mit der Hagia Sophia in ihrer Heimatstadt Konstantinopel und mit San Vitale in Ravenna verglich. Doch dann verwirrte sie ihn.
»Chrysotriklinium«, verkündete sie mit seltsam schwingendem Tonfall und verfiel danach in Schweigen.
»Darüber weiß ich zu wenig«, erwiderte Lucas bedauernd, als keine weitere Erklärung zu diesem Wort folgte. Es war ihm irgendwo schon einmal untergekommen, aber er brauchte eine Weile, um sich zu erinnern. Chrysotriklinium hatte Ezra bei der ersten Begegnung mit dem König in das Wachstäfelchen eingeritzt. Lucas entsann sich der Erläuterung Karls und setzte eilig hinzu: »Nur, dass dies wohl ein äußerst prächtiger Audienzsaal der oströmischen Kaiser sein soll.«
»Mit einer Kuppel wie in einem roten Wüstenturm«, sagte Xenia versonnen. Fast flüsternd, setzte sie hinzu: »Darüber zieht der Vogel Rock seine Kreise, und davor wiegen sich drei Palmen im Wind.«
Er spürte ihren forschenden Blick, als habe sie ihm eine geheime Botschaft übermittelt und erwarte von ihm nun irgendeine Offenbarung. Nur welche? Er war ratlos.
»Palmen habe ich leider noch nie gesehen«, versetzte er also und kehrte eilig zu einem Thema zurück, von dem er etwas verstand: »Anders als in Konstantinopel oder Ravenna werden wir unsere Kuppel aber nicht aus Ziegeln oder Ton wölben, sondern … « Er machte eine Pause, um sie zu einer Nachfrage zu verführen, damit sie nicht weiter von Palmen sprach, einem ihm unbekannten Vogel oder von anderen Dingen, zu denen er sich nicht äußern konnte. Zum Beispiel vom Chrysotriklinium, einem Bau, der für die Sippe des Iosefos offensichtlich von besonderer Bedeutung war, über den er aber so gut wie nichts wusste. Schneller, als Sternschnuppen fallen, flogen Gedanken durch
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