Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
deshalb möglicherweise aus der Verantwortung für anspruchsvolle Planung entlassen und ihm wieder verhasste niedere Aufgaben zuteilen. Keinesfalls würde Odo zu diesem Zeitpunkt einer Eheschließung seines Sohnes zustimmen, schon gar nicht einer Verbindung zum Hause des mordverdächtigen Iosefos. Es war ganz und gar unmöglich. Außerdem befand sich Xenia auf dem Weg nach England, zu König Offa von Mercien. Lucas entsann sich, dass dessen Sohn wenige Jahre zuvor König Karls Tochter Berta hatte heiraten wollen, was der fränkische Herrscher, der keine seiner Töchter weggeben mochte, als eine unerhörte Anmaßung betrachtet hatte. Darüber war es zu einem Konflikt mit Offa gekommen, und Karl hatte deswegen sogar seine Häfen für englische Kaufleute sperren lassen. Wollte der Sohn König Offas jetzt etwa Xenia heiraten? Das würde ja bedeuten, dass die Schwester des Iosefos ohnehin viel zu hochgestellt wäre, als dass er, Lucas, sich irgendwelchen Hoffnungen hinsichtlich der Tochter hingeben durfte.
»Sprich«, forderte ihn Xenia auf, »wie werdet ihr nun das Problem lösen?«
Das würde ich auch gern wissen, dachte er: Wie nur kann ich deine Abreise verhindern? Er riss sich zusammen. Xenia hatte ihm kein verschleiertes Angebot gemacht. Sie hatte ihm nur auf sehr weibliche Weise zu verstehen gegeben, dass sie seinen Ausführungen zum Bau der Kuppel gefolgt war. Welch eine kluge Frau! Die sehr nahe neben ihm saß, seiner Reichweite jedoch gänzlich entzogen war. Er hustete und räusperte sich.
»Entschuldigung, Xenia; der Wein hat sich einen falschen Weg durch meine Kehle gesucht. Also, um die Kuppel zu stabilisieren, lassen wir zunächst breite Ringanker aus Holz zimmern. Die können während der Bauzeit und in der Phase danach die seitlichen Schubkräfte aus der Kuppel aufnehmen. Wie du schon zutreffend bemerkt hast, werden die eisernen Ringe erst dann die Kuppel zusammenhalten können, wenn sie mit Mauerwerk und Mörtel … «, er zögerte kurz, »… eins geworden sind.« Er atmete tief aus.
Xenias Frage, wie denn die Eisenstangen miteinander verbunden werden sollten, konnte er nicht mehr beantworten, da sich ein Edelknabe zu ihnen hinabbeugte und flüsternd verkündete, König Karl wolle mit der Nichte des Iosefos sprechen.
»Ich möchte mir euren Bau ansehen«, sagte sie und erhob sich, um der königlichen Aufforderung Folge zu leisten, »und dann erzählst du mir, wie er im Inneren ausgestattet werden soll. Und welche Rolle Träume in deinem Leben spielen.«
Ihr letzter Satz verblüffte ihn. Er hatte doch von nichts anderem gesprochen, seitdem sie sich zu ihm gesetzt hatte! Von seinem großen Traum, ein architektonisches Meisterwerk mitzugestalten, den größten Kuppelbau nördlich der Alpen. Daraus hätte diese kluge junge Frau doch schon längst schließen können, welch große Rolle Träume in seinem Leben spielten! Diesen einen aber, von dem sie nichts ahnte, würde er tief in einer Kammer seines Herzens verschließen. Ach, wenn Ezra doch nur hier wäre! Ihm gegenüber würde er sein Herz öffnen, mit ihm über Xenia reden können.
Da der schönen Frau aus Konstantinopel erlaubt wurde, sich König Karl gegenüber niederzusetzen, war sie seinem Blickfeld entzogen; es sei denn, er beugte sich weit nach vorn. Was er tat, bis ihn der gutmütige Spott seiner Tischgesellen dazu zwang, sich wieder aufrecht hinzusetzen.
Er widerstand der Versuchung, das grüne Bändchen um die Apfel-Kuppel zu berühren, und gab sich erfüllbaren Träumen hin. Xenia wollte die Baustelle sehen? Nun, schon am folgenden Morgen könnte er sie ihr zeigen. Vor seinem geistigen Auge sah er sich neben ihr den Umgang der künftigen Logen des Obergeschosses abschreiten. Die Räume im Erdgeschoss waren gerade fertig gemauert worden, und schon von dieser Höhe aus hatte man eine beeindruckende Sicht auf einen großen Teil der Pfalzanlage. Natürlich würde die schöne Xenia nicht das Gerüst erklettern müssen, sondern über eine der beiden in die Höhe wachsenden Turmtreppen emporsteigen können.
Wieder überstürzten sich seine Gedanken: Ich muss dringend dafür sorgen, dass zum Zeitpunkt ihres Besuchs dort gerade kein mit Mörtel oder Werkzeugen beladener Esel hinaufgeführt wird, dass tierische Hinterlassenschaften beseitigt und die Stufen sauber genug sind, damit ihre Schuhe und der Saum ihres Kleides nicht beschmutzt werden. Oben auf dem Umgang werde ich ihren Arm nehmen und stets auf der Hut sein müssen, dass sie nicht etwa
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