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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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nicht so aus, als ob er sich jemals wieder von dem kleinen Lebewesen an seiner Brust trennen wollte. Der Wächter öffnete die Tür.
    »Warte«, sagte Isaak auf Sächsisch zu Alboin. »Sollte die Mutter dieses Kindes morgen doch nicht freikommen, musst du ihr zur Flucht verhelfen. Schaffst du das?«
    Nachdem König Karl mit der schönen blonden Liutgard neben sich in den Hof des Palatiums eingeritten war, ließ Einhard die beiden alten Baumeister rufen. Zu Odos Entsetzen ging es dem Schreiber jedoch nicht um die Fortschritte der capella , sondern um die menschlichen Überreste, die im Fundament zutage getreten waren. In einer feierlichen Prozession sollten sie am nächsten Tag aus ihrer derzeitigen Verwahrung zum Gottesacker gebracht und dort christlich bestattet werden.
    Das Beinhaus unterstehe der Obhut des jungen Lucas, bemerkte Iosefos, ohne Odo anzusehen. Dieser hatte die dumme Sache mit den Knochen schon längst vergessen und war gehörig blass geworden.
    Da Lucas vor der Tür auf seinen Vater warte, könne man sich sofort aufmachen, schlug Einhard vor. Er wolle sich endlich selbst ein Bild von Anzahl und Beschaffenheit der Knochen machen; vielleicht könnten Heilkundige einige gar noch zu kompletten Skeletten zusammenfügen. So weit wie möglich sollte man zumindest versuchen, den Verstorbenen für den Tag der Auferstehung des Fleisches entgegenzukommen. Das sei man ihnen nach der Störung ihrer Totenruhe schuldig.
    Nicht im Mindesten beunruhigt, schritt Lucas voran und führte die Männer dorthin, wo die Ärmsten der Armen wohnten. In den vergangenen Wochen hatte er viel Zeit damit verbracht, Knochen zu sammeln, zu reinigen, gelegentlich mithilfe von Feuer, und ordentlich zu lagern. Nur vereinzelte Gebeine stammten aus den Umgangsjochen des Fundaments. Den weitaus größten Teil hatte Lucas am Ende der Gasse in den beiden abseits stehenden Ruinen gefunden und in deren Nähe. Hier, außerhalb der damaligen Ortschaft, musste es zur Zeit der römischen Besatzung ein Grabfeld gegeben haben. Lucas hatte den Ziegelabbauern nicht einmal sagen müssen, dieses Gebäude zu verschonen. Ein einziger Blick in den Eingang reichte, dass sie sich hastig bekreuzigten, sich noch schneller entfernten und anderswo den roten Stein aus den Gemäuern herausbrachen.
    Umso erstaunter war Lucas, als er einen Mann mit einem offensichtlich schweren Hanfsack aus der von ihm eingesetzten Tür heraustreten sah.
    »Salvete«, begrüßte Isaak die Männer, starrte Iosefos verblüfft an und fragte auf Arabisch: »Woher weißt du, dass der Schatz des Kalifen hier begraben liegt?«
    Er öffnete den Hanfsack, ergriff einen in beschriftetes Papier gewickelten Gegenstand und reichte ihn Iosefos.
    Mit zitternden Fingern entnahm dieser der als Verpackung missbrauchten Koranseite einen Golddenar mit dem Abbild des Kalifen.
    »Dieser Schatz«, verkündete Isaak, »ist für König Karl bestimmt. Eine Gabe des edlen Kalifen Harun al Raschid, die dem Überbringer geraubt wurde, aber auf wundersame Weise dennoch in Aachen eingetroffen und von mir ausfindig gemacht worden ist.«
    Iosefos versteinerte. Dann streckte er zitternd einen Arm aus, als wolle er Isaak anklagen. Der rückte näher an ihn heran und raunte abermals auf Arabisch: »Wir müssen reden, mein Freund. Und zwar sofort!«
    Das Gemurmel im Saal verstummte, als Baumeister Iosefos eintrat. An seiner Seite schritt eine unbekannte hochgewachsene Frau von seltsam fremdartiger Schönheit. Sie trug ein tief ausgeschnittenes grünes Kleid und hatte bis auf ein grünes Seidenband am Handgelenk auf jeglichen Schmuck verzichtet. Ihr glattes schwarzes Haar war streng zurückgekämmt und enthüllte ein fein geschnittenes Gesicht, dessen makelloses Ebenmaß durch den schwarzen Punkt auf der Stirn nur umso deutlicher hervortrat.
    Auch der König blickte verblüfft auf das ungleiche Paar. Wie immer saß er an der Tischmitte seiner erhöhten Tafel, neben sich die wunderschön herausgeschmückte Liutgard, deren lichte Blondheit allen Anwesenden als wundersamer Kontrast zu der dunklen fremden Frau erschien.
    Der König winkte die Neuankömmlinge zu sich. Die lange Nase des Iosefos leuchtete feuerrot. Nie zuvor hatte er sich verdrießlicher gefühlt. Bei dem ersten Gelage des Königs hatte er sich verteidigen dürfen; bei diesem wurde er nur als Mittel zu einem Zweck missbraucht, der nichts mit seiner Arbeit zu tun hatte und dessen Sinn er nicht verstand. Isaak und Ezra hatten ihn zu diesem Auftritt genötigt,

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