Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
Vom Netzwerk:
stolpert oder gar stürzt. Ich werde sie gut festhalten müssen, damit sie sich bei mir wirklich sicher fühlt. Sie wird mir sehr nahe sein.
    Bei diesem Gedanken hielt er sich etwas länger auf; er war köstlicher als der königliche Wein und berauschte ihn erheblich mehr. Hier war ein Traum, der wahr werden könnte. Erst als er merkte, dass seine Hände die Apfel-Kuppel umschlossen hielten und seine beiden Daumen das grüne Seidenband streichelten, rief er sich zur Ordnung.
    Xenia wollte den Bau sehen. Weil sie sich für Architektur interessierte. Und nicht, weil sie ihm nahe sein wollte. Ihre Neugier galt nicht ihm, sondern dem Bau und der Ausgestaltung der künftigen Kirche.
    Also werde ich ihr die kleineren Lehrgerüste für die Gewölbe zeigen, mit ihr Werkstätten aufsuchen, weniger die Körberei oder die Seilerei, sondern eher die Orte, an denen Werke geschaffen werden, die ihrer Schönheit gleichen, wo Bronzegießer, Steinmetze, Mosaikkünstler, Miniaturmaler und Elfenbeinschnitzer schon jetzt eifrig damit beschäftigt sind, den Schmuck für den Innenraum der Kirche herzustellen.
    Er überlegte, ob er Einhard überreden könnte, Xenia zu jener geheimen Stätte zu führen, wo unzählige Marmorplatten sowie die berühmten Säulen aus Syenit, Granit und Porphyr auf ihre spätere Verwendung in der Kirche warteten. Diese Kostbarkeiten waren aus alten Bauten in Rom und Ravenna herausgebrochen und mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung Papst Hadrians nach Aachen geschafft worden. Wie auch das eindrucksvolle Reiterstandbild des Theoderich, das Xenia im Hof der Pfalzanlage bereits bewundert haben dürfte.
    Bei dem Gedanken an Einhard fiel Lucas siedend heiß ein, dass er am kommenden Morgen bereits eine andere wichtige Verabredung hatte. Er hatte dem Schreiber am Nachmittag freudig zugesagt, bei der Bestattung der alten Gebeine dabei zu sein, da ihm dies die Anwesenheit bei der angekündigten Hinrichtung ersparte. Er würde die Besichtigung also verschieben müssen. Wie lange würde sich Xenia überhaupt in Aachen aufhalten?
    Genau diese Frage stellte sich Lucas wieder, als er von seinem erhöhten Standpunkt aus nach Xenia Ausschau hielt. Über die vielen Gedanken an die unmittelbare und eine erträumte, aber unmögliche fernere Zukunft war ihm die Aufmerksamkeit für die Gegenwart entglitten. Darüber hatte er Xenia aus den Augen verloren. Irgendjemand zupfte ungeduldig an seiner festlichen Tunika, doch er blieb noch einen Augenblick unschlüssig auf der Bank stehen. Sein Blick fiel auf Iosefos.
    Dessen Tischnachbarn waren offensichtlich vor dem Mann mit der chronisch schlechten Laune geflohen. Nicht einmal seine Gemahlin, die bescheidene Dunja, harrte noch neben ihm aus. Er saß allein vor seinem Becher Wein und wirkte sogar noch verdrießlicher als sonst. Dennoch wagte Lucas, die unsichtbare Mauer um Iosefos herum zu durchdringen. Er sprang auf den Boden hinunter, rutschte neben den Baumeister auf die Bank und fragte leise: »Machst du dir keine Sorgen um deine Nichte Xenia, Meister? Sie ist offenbar verschwunden.«
    Er wiederholte die Frage lauter, da Iosefos nicht anzumerken war, dass er sie verstanden hatte.
    Auch jetzt antwortete der Baumeister nicht.
    Dann zuckte Lucas zusammen. Hatte Iosefos etwa kurz die Lider gehoben und aus seinen Augen so etwas wie einen Blitz abgeschossen? Etwas Tödliches, das ihn, Lucas, treffen, fällen und für immer vernichten sollte? Es war so schnell gegangen, so unwirklich und widersinnig gewesen, dass Lucas diese Wahrnehmung den Ausläufern des Rausches zuschrieb, der ihn bei all seinem Nachdenken über Xenia erfasst hatte. Weshalb sollte Iosefos eine solche Regung zeigen? Zumal er Lucas weiterhin nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Er saß immer noch regungslos da, blickte mit heruntergezogenen Mundwinkeln auf seinen leeren Becher und ließ nicht einmal sein bei den Bauarbeitern so gefürchtetes Knurren hören.
    Lucas stieß einen Seufzer aus. Er wagte es nicht, den sich taub Stellenden weiter zu befragen, und kam sich sehr verloren vor. Aber Xenia war mit ihrem Oheim gekommen, ohne ihn würde sie also nicht gehen können. Wiewohl Iosefos nichts sagte oder tat, fühlte sich Lucas noch ärger gemaßregelt als zu den schlimmsten Zeiten des einstigen Hoflehrers Alkuin, der jedes Versagen und jegliche Nachlässigkeit seiner Schüler streng bestraft hatte. Dennoch harrte er an der Seite des Iosefos aus, da es keine andere Verbindung zu Xenia gab. Wenn jetzt wenigstens Ezra

Weitere Kostenlose Bücher