Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
den Schürhaken auf die Feuerstelle, griff nach seinem Kittel und schüttelte den Kopf.
»Das ist doch nur der Architectulus, Weib«, knurrte er. »Was will er von dir?«
»Er will mich holen«, flüsterte Heda. Sie hatte sich inzwischen eine Decke umgehängt und ihren Säugling aus seinem Korb gehoben. »Ich soll doch mit einer feinen Frau in ein fremdes Land reisen. Aber … « Mit dem Säugling an der Brust trat sie auf Ezra zu, »… was wird dann aus meinem Kind? Jetzt, da es einen Vater und ich einen Mann gefunden habe? Einen ehrlichen Mann, der für uns sorgt. Keinen Räuber wie Fredo, der mir alles genommen und mich verraten hat. Ich hätte reich sein können! Aber ich habe auf ihn gewartet. Weil ich ihm geglaubt habe. Wie dumm ich doch war! Doch jetzt weiß ich, wohin ich gehöre.« Sie schmiegte sich an Alboin, der seine Blöße inzwischen auch notdürftig bedeckt hatte, sah Ezra unendlich traurig an und sagte zu Lucas: »Er versteht meine Sprache nicht. Sag ihm, dass ich alles tue, was er von mir will. Ich stehe in seiner Schuld, sagt der Jude. Ich gehe auch mit der fremden Frau in das fremde Land und lasse mein Kind zurück, wenn der Zauberer es so bestimmt. Ich muss mich nur anziehen.« Sie wandte sich ab und verschwand im Dunkel der Kammer.
Lucas musterte Ezra nachdenklich, und hob dann mit seinem Zeigefinger ihr Kinn an. Er sah ihr tief in die Augen, als wolle er ergründen, was hinter ihnen vorging. Unter seinem forschenden Blick wurde ihr immer unbehaglicher zumute. Ungeduldig wedelte sie mit den Fingern, legte schließlich eine Hand ans Ohr. Er sollte ihr endlich Hedas Worte übersetzen. Auf fränkische Dialekte hatten Gerswinds Unterrichtsstunden sie nicht ausreichend vorbereitet. Sie hatte nur die Namen verstanden und aus Hedas Gesten geschlossen, dass die Frau glaubte, ihr, dem vermeintlichen Zauberer, folgen zu müssen. Was Ezra angesichts der eindeutigen Lage für unnötig hielt. Isaak musste Heda nicht nach Prüm zurückschicken; sie hatte offensichtlich ein Zuhause gefunden.
Doch Lucas übersetzte nicht. Er musste erst seine eigenen Worte loswerden.
Sein Finger verließ Ezras Kinn, wanderte ihr Gesicht hinauf, hob eine Haarsträhne aus ihrer Stirn und entblößte ein kleines schwarzes Mal.
Er nickte und holte tief Luft.
»Dachte ich es mir doch«, sagte er leise. »Xenia ist also nicht abgereist.«
kapitel 9
der sturz
Dein Bild entschwindet nie, nicht eine einz’ge Stunde;
Im Herzen wies ich ihm den Platz der Ehre zu.
Hofft ich auf Heimkehr nicht, ich wäre bald gestorben;
Wär nicht das Bild im Traum, ich fände keine Ruh.
Aus 1001 Nacht (die 798. Nacht)
aachen, frühjahr 797
D ie Katastrophe kündigte sich an. Doch das leise Ächzen des Lehrgerüsts, das ein hohes Gewölbe über einem Quadrat im westlichen Obergeschoss stützte, ging im allgemeinen Lärm auf der Baustelle unter, im Hämmern, Sägen, Steineklopfen, im Stimmengewirr und Quietschen der Winden. Erst das sehr vernehmliche Knarren von Balken ließ einige Arbeiter aufhorchen. Sie sahen sich erschrocken an. Es knackte bereits gehörig laut, als sie aus der Nähe des Gerüsts flüchteten, das wenige Augenblicke später in sich zusammenstürzte. Balkenteile donnerten über das Gesims hinaus und kamen zu einem krachenden Halt auf dem Boden des Oktogons. Hilfeschreie ertönten. Ein Steinsetzer war bei seiner Flucht auf dem oberen Umgang von einem Balken getroffen worden. Er war verletzt oder eingeklemmt, so genau konnte das Lucas von seiner Warte auf der gegenüberliegenden Seite nicht erkennen. Er rannte los, um dem Mann zu helfen. Jemand stellte ihm ein Bein. Er stürzte.
»Nicht!«, schrie Iosefos.
Lucas erhob sich, aber es gelang ihm nicht sofort, sich aus dem eisernen Griff des einen gesunden Arms zu befreien.
»Bleib«, zischte der alte Baumeister. »Gleich kommt alles hernieder.«
Der erste Stein hatte sich bereits aus dem Gewölbe gelöst und war herabgestürzt. Lucas riss sich von Iosefos los. Er rannte über den Umgang durch die Folge der winklig gestellten Bogentore weiter, während Travertinsteine aus der Gewölbedecke auf das Viereck vor ihm hinabprasselten. Der eingeklemmte oder verletzte Arbeiter brüllte noch immer. Lucas rannte.
»Nein, Lucas!«, schrie Ezra aus dem Erdgeschoss des Oktogons. Der Schrei des ansonsten stets stummen Architectulus ging allerdings in großem Gedonner unter und wurde von niemandem beachtet. Ezra schlug sich die Hand vor den Mund! Lucas blieb unvermittelt stehen. Das
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