Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
gesamte Gewölbe stürzte ein und begrub den Steinsetzer unter sich. Dann herrschte Totenstille auf der Baustelle.
Der furchtbare Unfall warf die Arbeit um Wochen zurück. Ein Omen des Unheils, sagte Odo vorwurfsvoll zu Iosefos im Inneren des Oktogons. Der fränkische Baumeister deutete in die lichte Höhe, die dereinst geschlossen werden sollte und über der gerade ein Raubvogel seine Kreise flog. »Wie sollen wir die Kuppel in solcher Höhe stützen, wenn uns schon ein so viel kleineres Lehrgerüst einbricht, das erheblich weniger Lasten aufnehmen muss?«
»Schlechte Zimmerleute«, knurrte Iosefos.
Odo nickte. »Du hast recht«, sagte er. »Aber das ist nicht unsere Schuld.«
Wir , dachte Iosefos, unsere . So weit ist es jetzt schon gekommen, dass sich dieser Mensch mit mir verbündet. Es reicht, dass sein Sohn ständig um meine Tochter herumstreicht, von der er zum Glück nicht weiß, dass es eine Tochter ist.
Und damit hatte Iosefos durchaus recht: Lucas hatte keinesfalls die Frau in Ezra erkannt, als er ihr vor der Hütte des Schmiedes das Haar aus der Stirn gestrichen hatte. Zu seiner Bemerkung hatte ihn nur die Gewissheit verleitet, dass sich die edle Xenia ohne ihre Kammerfrau sicherlich nicht auf den Weg nach Mercien gemacht hätte.
»Unsere besten Zimmerleute hat der König auf seinen neuen Sachsenfeldzug mitgenommen«, fuhr Odo fort.
»Sollen sie seine Heiden mit dem Zirkel erschlagen?«, fragte Iosefos.
»Nein, sie müssen Schiffe bauen«, antwortete Odo. »Zum Übersetzen und zum Transport über Land. Die Schiffe werden jeweils in vier Teile zerlegt, damit sie von Tieren gezogen und hinterher am Fluss wieder zusammengesetzt werden können. So will der König zwischen der unteren Weser und der unteren Elbe nach Wigmodien kommen und dann durch die Sümpfe und das unwegsame Gelände an die Küste des sächsischen Ozeans. Und dafür bedarf er eben der besten Zimmerleute.«
»Solch ein Unsinn«, erwiderte Iosefos, »selbst die besten können nicht verhindern, dass Wasser an den Nahtstellen durchsickert. Derart zusammengezimmerte Schiffe werden schnell versinken.«
»Die Nähte werden mit Unmengen von Pech, Wachs und Werg abgedichtet«, erwiderte Odo. »Der König weiß, was zu tun ist.«
»Und was tun wir?«, fragte Iosefos. Er ärgerte sich augenblicklich über das verschwörerisch klingende Pronomen, verwendete es aber sogleich noch einmal: »Woher beschaffen wir uns auf die Schnelle ordentliche Zimmerleute, damit sich das Unheil nicht wiederholt?«
»Ich habe da so eine Idee«, murmelte Odo. »Sie mag dir abwegig erscheinen, weil du die Kirche nicht kennen wirst, die einheimische Zimmerleute im Eifelgau errichtet haben. Die können besser mit Holz umgehen als die meisten, die wir hier zur Verfügung haben. Niemand am Hof kennt diese Leute, also ist es ein ziemliches Wagnis. Aber ich bin bereit, es einzugehen. Da du offenbar schon zu wissen scheinst, wie wir in solcher Höhe ein Lehrgerüst errichten können, solltest du sie einweisen.«
Iosefos brach in Gelächter aus. Odo erschrak. Nicht, weil er sich durch die Reaktion des Iosefos beleidigt fühlte, sondern weil er seinen Mitarbeiter und Gegenspieler nie auch nur hatte lächeln sehen. Was hatte diesen Ausbruch guter Laune verursacht? Bei diesem Mann, den er, Odo, dazu gezwungen hatte, sich einem Gottesurteil zu unterwerfen? Odo erschrak noch mehr, als Iosefos ihm mit seiner guten Hand auf die Schulter schlug.
»Mein Freund«, sagte Iosefos, Odo mit diesem Wort noch weiter verwirrend, »schön, dass du deine Ängstlichkeit abgelegt hast! Jetzt bin ich mir sicher: Du bist ebenso wenig ein Franke wie ich. Verrate mir doch, wo deine Wurzeln liegen.«
september 797
Im neunten Monat des Julianischen Kalenders, den die Franken Holzmonat nannten, quälte Ezra die Frage nach dem neunten Mondmonat ihrer Heimat. Ausgerechnet sie, die so viel besser als Lucas rechnen konnte, hatte im Laufe ihrer fränkischen Jahre die Zeit aus den Augen verloren. Wann hatte in diesem Jahr der Fastenmonat Ramadan begonnen – oder stand er gar noch aus?
Vieles war in Bagdad einfacher gewesen. Doch dort, wo die Sterne zum Greifen nah waren, mussten die Gläubigen den Nachthimmel niemals nach der ersten Mondsichel absuchen, da alle Muslime genauso auf das große gemeinschaftliche Ereignis hinfieberten wie die Christen im Frankenland auf Ostern und Weihnachten. Früher hatte Ezra mit den Dienern nach Sonnenuntergang das Fasten gebrochen, nicht etwa im Kreise ihrer
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