Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
nicht gelangweilt zu haben. Nichts wünsche er sich mehr als ein baldiges Wiedersehen, schrieb er und forderte sie auf, ihm von ihrem Leben in England zu berichten.
Fünf Monate, nachdem Ezra dieses erste Schreiben entgegengenommen hatte, überreichte sie ihm Xenias Antwort. Die wiederum sehr kurz war und keine Informationen über Mercien in England enthielt.
Die Arbeit soll dein Pferd sein, nicht dein Reiter , hatte sie geschrieben und hinzugesetzt, dass sie seit ihrer Begegnung am Festabend in Aachen nie wieder ein so anregendes Gespräch geführt habe. Er möge ihr doch bitte weiterhin über die Fortschritte des Kuppelbaus und seine Gedanken dazu berichten.
»Sie schreibt nicht, ob es ihr gut geht«, sagte Lucas zu Ezra, »und sie schreibt nicht einmal darüber, dass König Offa inzwischen gestorben ist.« Er zupfte an dem grünen Bändchen herum, das er seit jenem Abend in der Königsaula am linken Handgelenk trug. So oft wie möglich suchte er jetzt die Gesellschaft Ezras, schien allerdings schier daran zu verzweifeln, dass sich der Architectulus strikt weigerte, Anmerkungen zu seiner Base in das Wachstäfelchen zu ritzen. Bis auf einen einzigen Satz, der Lucas sehr beruhigte: Xenia wird nicht in England heiraten.
In seinem zweiten Brief stellte er der fernen Angebeteten wieder Fragen zu ihrem neuen Leben auf der großen Insel im Nordwesten. Viele Monate später erreichte ihn ihre Antwort:
An das raue Klima muss ich mich noch gewöhnen. Geist und Hände sind jedoch mit vielerlei beschäftigt, während sich das Herz gleichzeitig müht, mein ganzes Wesen zu ordnen. Auch ich freue mich auf ein Wiedersehen und halte die Augen offen. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht; man kann es aber wässern und vor dem Schnitt schützen.
»Mir hilft es nicht, die Augen offen zu halten«, sagte Lucas und sah Ezra verzweifelt an. »Nur wenn ich sie schließe, kann ich die schöne Xenia vor mir sehen. Wie klug sie doch ist. Und wie bildhaft ihre Sprache.«
Zu bildhaft, schalt sich Ezra. Die Menschen im nüchternen Norden verketteten ihre Gedanken nur selten mit blumigen Allegorien.
»Meinst du, ich darf es wagen, ihr auch von meinem Herzen zu berichten?«, fragte Lucas. »Oder würde sie das als Anmaßung verurteilen?«
Ezra hielt seine Finger auf, die wieder über das grüne Bändchen streichen wollten, zog aber schnell die eigene Hand zurück. Verwundert betrachtete sie ihre Fingerspitzen. Sie brannten, als hätte sie Lucas einen Schlag versetzt oder selbst einen erhalten.
»Du hast recht«, sagte er und ließ von der Kordel ab, »ich sollte nicht ständig mit ihrem Pfand herumspielen. Uns verbindet ein zartes grünes Band, und das darf nicht verschlissen sein, wenn ich es ihr zurückgeben werde.«
Für ihren Koran brauchte Ezra derzeit kein Lesebändchen. Sie verwahrte die Sammlung der unvollständigen losen Blätter wie auch die Briefe von Lucas in einem Holzkästchen, das sie sich von einem Zimmermann hatte anfertigen lassen. Zusammennähen wollte sie die Seiten erst wieder, wenn Isaak mit den fehlenden Suren aus Bagdad zurückgekehrt war. Sie wusste, dass dies einige Jahre dauern konnte, aber sie vertraute auf Allah, der ihr sein Wort gewiss vollständig zukommen lassen würde. Die zerknüllten Seiten, mit denen Perlen, Geschmeide und Golddenare eingewickelt gewesen waren, hatte ihr der Fernhändler noch an jenem Tag ausgehändigt, da er den Schatz im Beinhaus gefunden hatte. Vergeblich hatte Ezra versucht, Falten und Knicke mittels schwerer Steine zu entfernen. Erst die mit heißer Kohle gefüllte flache Pfanne, mit der Gerswind jeden Stoff bändigen konnte, hatte das Papier wieder geglättet.
Sorgsam hob Ezra die geretteten Seiten in der Holzkiste an, um den letzten Brief von Lucas darunter hervorzuziehen. In der Werkstatt schnitt sie sich ein Stück Pergament zurecht, rührte Tinte aus der Rinde des Schlehendorns mit Wasser flüssig, so wie Isaak es ihr gezeigt hatte, und goss sie in ein winziges verschließbares Tongefäß. Sie ergriff ihre Gänsefeder, verstaute alles in einem kleinen Hanfbeutel, hängte ihn über eine Schulter und begab sich auf den Weg zur Baustelle.
Hoch oben auf dem Außengerüst würde sie Lucas ungestört einen Brief schreiben können, denn am siebten Tag der Woche ruhte im ganzen Christenland die Arbeit. Anders als in Bagdad, wo ungläubige Sklaven auch am Freitag arbeiten mussten, waren diese im Frankenland am heiligen Tag der Christen von ihren Pflichten
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