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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Nordens ohne Herkunftswürde, ohne erkennbare höfische Etikette und bar jeglicher Prachtentfaltung. Eines Nordens allerdings, der sie selbst nicht als Sklavin kannte, sondern ihr als vermeintlicher Gemahlin des Baumeisters Achtung erwies und sie sogar an einer Tafel im Saal des Herrschers zuließ. Selbst als erste Ehefrau des obersten Baumeisters wäre es ihr in Bagdad niemals möglich gewesen, mit dem Kalifen zusammen zu speisen. Diese Ehre versöhnte sie mit mancher Unannehmlichkeit des rückständigen Frankenlandes und hielt ihr Heimweh nach den Bequemlichkeiten orientalischer Lebensführung durchaus in Grenzen.
    »König Karl ist in Prüm aufgewachsen«, erklärte Ezra müde. »So heißt die winzige Ansiedlung, aus der Heda stammt und wo sich alle kennen. Ich habe ihm nur gesagt, dass meine Dienerin auf der Reise verstorben ist, ich mir deshalb bei meiner Durchreise in Prüm Ersatz gesucht und dabei Heda gefunden habe.«
    »Weshalb solltest du auf deinem Ritt an einem so kleinen und unbedeutenden Ort angehalten und eine Dienerin gesucht haben?«
    »Weil ich mir die prächtige Goldene Kirche angesehen habe, die dort gerade errichtet worden ist«, erwiderte Ezra, »und dann habe ich Hedas Vater bei jenem Schrein angetroffen, in dem die Sandalen aufbewahrt werden, mit denen Jesus durch Jerusalem gewandelt ist.«
    »Vor diesem Schrein hast du als gute Christin natürlich gebetet.«
    »Lästere nicht, Dunja. Jesus war ein großer Prophet.«
    »Das ist Isaak offensichtlich auch, da er dich mit all diesen Einzelheiten so gut vorbereitet hat. Deinem Vater hat er ganz schön zugesetzt. Der Mann ist ein Teufel; er hat unser ganzes Vermögen einfach dem König geschenkt. Ich sollte weinen, nicht du, da du dein Ziel doch erreicht hast!«
    Mein Ziel werde ich nie erreichen, dachte Ezra, und spürte, wie ihr die Tränen erneut in die Augen stiegen. Obwohl ihr anderer, ihr ursprünglicher Plan durchaus auch aufgegangen war: Lucas hatte sie mit Beschlag belegt und ihr mehr gehuldigt, als sie für möglich gehalten hätte. Eigentlich sollte sie unendlich glücklich sein. Sie hatte ausführlich mit ihm reden können, ohne dass ihr gefährlich Unbedachtes herausgerutscht war. Bis auf einen Lapsus, als den er das Chrysotriklinium wohl nicht wahrgenommen haben durfte, da er offensichtlich doch nicht den gleichen Traum wie sie gehabt oder ihn nach dem Erwachen wieder vergessen hatte. Auch das Wort Heiraten hatte ihr nicht der Verstand, sondern das Herz eingegeben. Ezra war selbst erschrocken, als sie es ausgesprochen hatte, doch in Verbindung mit so unschmiegsamen Materialien wie Mörtel, Mauern und Metall musste es an bedrohlicher Wirkungskraft verloren haben. Sie hatte sich nicht verraten. Darauf hätte sie stolz sein können. Aber das war sie nicht; sie schämte sich.
    Es war zwar befriedigend, aber überhaupt nicht befreiend gewesen, als Frau aufzutreten. Weil sie nicht sie selbst hatte sein können. Weil sie sich Lucas gegenüber hatte verstellen müssen. Was sie von der ersten Begegnung an ohnehin getan hatte und jeden Tag aufs Neue wiederholte. Ganz gleich, ob sie als Mann oder als Frau auftrat: Ihr Leben war eine einzige Lüge.
    Wie von Gerswind prophezeit, hatte der junge Lucas an diesem Abend nur Augen für sie gehabt. Nicht für sie, sondern für ein Wesen, das in der Wirklichkeit keinen Platz hatte, weil es nicht existierte. Sie könnte Xenia sterben lassen und Lucas mit einem Wort auf ihrer Wachstafel unglücklich machen. Das lag in ihrer Macht und würde ihren Vater beglücken, wenn er es denn erführe. Vor dessen Zorn fürchtete sie sich nicht. Da sie in der Kleidung, mit der er einst selbst ihr Geschlecht bestimmt hatte, stumm war, brauchte sie sich ihm gegenüber nicht für ihr Verhalten auf dem Fest oder für die offen gezeigte Zuneigung zu Odos Sohn zu rechtfertigen.
    Sie war als Knabe erzogen, zum Jüngling geschult und in Aachen als Architectulus anerkannt worden, aber spätestens einmal im Monat wurde sie mit dieser Unwahrheit konfrontiert und war sie ihrer wahren Natur unterworfen. Wer oder was war sie also wirklich? Sie wusste es selbst nicht mehr. Sie wusste nur, dass es aus ihrer Lage keinen Ausweg gab. Den Gedanken, den Architectulus sterben zu lassen und als Xenia zurückzukehren, verbot sie sich. Nicht nur, aber auch aus Achtung vor ihrem Vater. Er durfte das Gesicht nicht verlieren. Aber vor allem aus Angst vor einer Zukunft, in der es keinen Platz geben konnte für all das, was sie bisher gelernt hatte

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