Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
Familie. Iosefos hatte es sich erlauben können, religiös verordnetes Hungern und Dürsten abzulehnen, da er nach einem eigenen Glaubensgefüge lebte und ihn sowieso niemand zur Rechenschaft gezogen hätte. Und als andersgläubige Bulgarin brauchte sich die Sklavin Dunja nicht an die Regel zu halten.
In Aachen war der Nachthimmel zu oft verhüllt, und es gab keinen Imam, der Ezra wieder auf die Spur der Zeit hätte helfen können, einer Zeit, die im Abendland so ganz anders und viel hektischer verlief, als sie es von Kindheit an gewohnt gewesen war.
Jetzt aber waren Menschen gekommen, die ihr Auskunft geben könnten. Dennoch zögerte sie, arabische Zeichen in ihr Wachstäfelchen zu kritzeln und sie jemandem aus dem Gefolge des Emirs Abdallah unter die Nase zu halten. Dieser im mauretanischen Exil lebende Omayyade war vor wenigen Tagen bei König Karl eingetroffen. Er wollte sich mit dem fränkischen Großkönig verbünden, um den neuen Emir von Córdoba, seinen Neffen al Hakam, von jenem Thron zu stürzen, den ihm sein eigener Bruder einst abgejagt hatte.
König Karl war mit unzähligen Geiseln gerade erst von seinem vorerst letzten großen Sachsenfeldzug aus Wigmodien zurückgekehrt, und Iosefos zweifelte daran, dass er sich angesichts des nahenden Winters auf ein neues Abenteuer einlassen wollte. Doch Karl hatte den Baumeister selbst darauf angesprochen: Ein fränkischer Einfall in Córdoba würde doch seinen ursprünglichen Auftraggeber, den Abbasidenherrscher Harun al Raschid, gewiss entzücken.
Iosefos hatte ungewöhnlich wortreich zugestimmt: »Den Kalifen von Bagdad entzückt alles, was den Omayyaden schadet.«
»Mich entzückt, wie schnell meine Kirche emporwächst«, hatte Karl geantwortet und wie nebenbei bemerkt: »Es wird Zeit, mich bei meinem edlen arabischen Freund für sein großzügiges Geschenk erkenntlich zu zeigen, jetzt, da der Jude wieder genesen ist.«
Er ließ Isaak rufen. Der Fernhändler hatte sich im Vorjahr bei einem Sturz von seinem ungeliebten Pferd schwer verletzt und lange in Lebensgefahr geschwebt. Heda, die Ezra ihr neues Lebensglück mit Alboin zuschrieb, hatte angeboten, den Freund in ihrem Haus aufzunehmen und gesund zu pflegen. Was ihr vortrefflich geglückt war, denn jetzt befand sich Isaak, der sicherlich gewusst hätte, in welchem Monat der Ramadan zu begehen war, mit zwei Gesandten des Frankenkönigs, einer Meute von Kampfhunden, vielen weiteren Geschenken und einem geheimnisvollen Schreiben bereits auf dem Weg nach Bagdad.
Nein, dachte Ezra, es ist viel zu gefährlich, mich Fremden, seien sie noch so gläubig, als Muslim erkennen zu geben. Ich warte die nächste Mondsichel ab. Auch wenn mir Allah dies, angesichts der immer kürzer werdenden Tage, als Bequemlichkeit auslegen könnte. Deswegen sollte ich darauf bedacht sein, im nächsten Hochsommer zu fasten.
Nachdem sie dieses Problem gelöst hatte, konnte sie sich endlich auf eine andere Aufgabe konzentrieren. Dafür musste sie einen Ort aufsuchen, an dem sie ungestört bleiben würde: Lucas sollte wieder einen Brief von Xenia erhalten, den dritten seit einundzwanzig Monden, seit jenem Tag vor der Schmiede, da er erklärt hatte, Xenia sei nicht abgereist.
Er hatte Ezra triumphierend angesehen und nach kurzer Pause hinzugesetzt, die vornehme Xenia habe sich gewiss nicht ohne ihre Kammerfrau auf die Reise nach England begeben. Also müsse sie noch in Aachen sein.
Xenia sei mit einer anderen Magd abgereist, hatte ihm das Wachstäfelchen beschieden, nachdem sich Ezra von ihrem Schreck erholt hatte. Wie schon bei der Umarmung viele Monate zuvor, verspürte sie nicht nur Erleichterung, sondern auch gelinde Enttäuschung, dass Lucas nicht gespürt hatte, wer vor ihm stand. Am nächsten Morgen hatte sie ihm dann ein Schreiben von Xenia überreicht.
Verzeih meinen Aufbruch ohne Abschied. Ich bin gern in deiner Nähe, und wir werden einander wiedersehen.
Er hielt Ezra das Pergament hin.
»Wann?«, fragte er atemlos.
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. Dann tippte sie auf die Schrift und an ihre eigene Brust.
»Ich kann ihr antworten? Du weißt von Boten, die ein Schreiben zu ihr nach Mercien in England überbringen können?«
Ezra hatte genickt und Lucas keine Zeit verloren.
In seinem ersten Brief äußerte er sich eher verhalten über die Gefühle, die Xenia in ihm ausgelöst hatte. Er merkte an, wie bedauerlich es sei, dass sein Leben nur aus Arbeit bestehe, und hoffte sehr, sie mit seinen Ausführungen
Weitere Kostenlose Bücher