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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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geschieht, dann soll es eben nicht sein. Was Allah verhüten möge.
    Sie legte sich der Länge nach hin, wischte den Staub vom Brett und entfernte mit ihrem Messer alle Unebenheiten, bevor sie auf dem Holz das saubere Pergament glatt strich. Dann beschwerte sie es mit dem kleinen Tongefäß und tauchte die angespitzte Feder in die Tinte.
    Das Wissen ist ein Schloss, dessen Schlüssel die Frage ist, begann sie . Wenn du eine Krise vorhersiehst, solltest du ihr zuvorkommen, indem du jeden befragst, der sie verursachen oder verhindern könnte. Das beste Wissen ist nämlich das, was du kennst, wenn du es brauchst.
    Sie legte die Feder zur Seite und setzte sich auf. Sollte jemals der Tag kommen, an dem Lucas erfuhr, wer sie war, würde er ihr genau diese Zeilen vor die Nase halten. Er hielt die Verständigung mit dem sprachlosen Architectulus für kompliziert? War der Meinung, dass er sich sein Wissen wohl kaum durch Fragen angeeignet habe?
    Wie du dich irrst, Lucas, dachte sie. Gerade weil ich meine Fragen in kurze schriftliche Form fassen muss, bin ich gezwungen, sie sehr präzise zu stellen. Du würdest es vielleicht erstaunlich finden, wie viel mir die Zimmerleute, die Schmiede, die Steinmetze und Steinsetzer erzählen. Sie wissen, dass ich sie nicht unterbrechen kann und nicht ungeduldig werde, wenn sie nicht gleich die richtigen Worte finden. Die Menschen, die dieses Bauwerk tatsächlich errichten, fühlen sich mir verwandt, eben weil auch sie ihr Handwerk viel besser beherrschen als ihre Sprache. Wir Architekten haben Ideen und zeichnen sie auf. Doch jene, die diese Zeichnungen weder lesen noch herstellen könnten, verfügen über Kraft, Kenntnis und Fähigkeit, sie zu etwas Nützlichem in der wirklichen Welt zu machen. Sie spüren, wenn das Gerüst wankt, wenn der Stein zu schief sitzt; sie fühlen, ob der Mörtel richtig zusammengesetzt oder das Holz zu weich ist, ob das geschmiedete Scharnier die Tür in den Angeln halten kann. Diese Leute musst du fragen, Lucas, so wie ich Alboin gefragt habe, wie er die Eisenstangen miteinander verbinden will. Er hat sich ein Verfahren ausgedacht, das ebenso einfach wie genial ist, und seine Augen haben geleuchtet, als er es mir an einem Abend in seiner Hütte verraten hat.
    Voller Glück, dass ich endlich ihre Sprache verstehe, hat mir seine Heda einen großen Becher Bier hingestellt. Den ich natürlich nicht angerührt habe, weil ich keinen Alkohol trinke. Sie verstehe das, sagte sie, das würde mir sicher wichtige Kraft abziehen. Was sie damit gemeint hat, weiß ich nicht, aber ich bin ihr dankbar, dass sie mich nicht zum Trinken gedrängt hat. Genauso wenig wie du, Lucas, als ich auf dem Fest den Becher Wein nicht geleert, sondern ihn zum Tambour meiner Kuppel umgewandelt habe. Der Architectulus gibt stets vor zu trinken und gießt den Wein dann unbemerkt unter den Tisch, doch Xenia hat ihren Becher nicht ein einziges Mal zum Mund geführt. Hast du überhaupt gemerkt, dass ich nichts getrunken habe? Wahrscheinlich nicht; wir haben so viel geredet. Manchmal denke ich, der Mensch hat zwei Ohren und einen Mund, weil er mehr zuhören als reden sollte. Und jetzt muss ich den Brief an dich weiterschreiben.
    Aber dazu kam sie nicht.
    »Architectulus!«, drang die Stimme des Wächters zu ihr hinauf. »Du sollst sofort herabsteigen.«
    Sie stand auf und breitete die Arme fragend aus.
    »Der König verlangt es!«
    Der König? Sie verengte die Augen und betrachtete das Grüppchen der Edlen neben dem Wächter. Lauter junge Leute, so viel konnte sie ausmachen; König Karl befand sich nicht unter ihnen, der hochgewachsene Herrscher wäre ihr schon von Weitem aufgefallen. Wahrscheinlich wollten wieder einmal irgendwelche gelangweilten Höflinge den stummen Architectulus belästigen. Das sollten sie, wie sonst auch, gefälligst am Boden tun; hier oben war ihr Reich, daraus würde sie sich nicht vertreiben lassen. Sie schüttelte den Kopf und legte sich wieder hin, um sich dem Brief an Lucas zu widmen.
    »Der König von Aquitanien! Er ist verärgert.«
    Jetzt erschrak sie doch.
    Ludwig von Aquitanien, König Karls jüngster Sohn, war – gleich seinen älteren Brüdern – zur bevorstehenden Reichsversammlung nach Aachen gekommen. An der erstmals auch Sachsen aus Westfalen, Engern und Ostfalen teilnehmen sollten. König Karl hoffte wohl, sich seinen alljährlichen Feldzug gegen dieses widerspenstige Volk ersparen zu können, wenn er es in einem Kapitular künftig den Franken gesetzlich

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