Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
seine Gedanken in für ihn ungewöhnliche Richtungen zu lenken. Schließlich gestalteten sie auch ein ungewöhnliches Bauwerk: den Wüstenturm jenes Traumes, den er nicht mit ihr geteilt hatte, aber in dem er ihr erstmals begegnet war. In keiner ihrer kurzen Episteln fehlte ein Hinweis darauf, sich doch dem Unvertrauten mehr zu öffnen. Allerdings befürchtete sie nach dem Vorfall mit dem Sohn des Königs, Lucas mit Worten, die nicht zum Frankenleben des Baumeistersohnes passten, womöglich ins Unglück zu stürzen. Vielleicht sollte sie die vorwitzige Xenia doch lieber sterben lassen. Dauernd starben Menschen an Wassersucht und an anderen schrecklichen Seuchen. Und auf Reisen waren sie ohnehin ganz besonders gefährdet.
mitte november 797
In Aachen herrschte große Betroffenheit, als verkündet wurde, dass der König das Weihnachtsfest in diesem Jahr nicht in seiner Heimatstadt verbringen würde. Er wollte sein Winterquartier im Sachsenland aufschlagen, um das unterworfene Volk ruhig zu halten, und den gesamten Hoftross, natürlich einschließlich seiner neuen Gemahlin Liutgard, mitnehmen. Zum Hof gehörte inzwischen auch der Sarazene Abdallah, der nun doch nicht mit Ludwig von Aquitanien nach Córdoba aufgebrochen war. Hinter vorgehaltener Hand hieß es, König Karl traue seinem Jüngsten nicht zu, auch nur das Geringste gegen die Omayyaden ausrichten zu können. Vor allem, nachdem ihm gerade zu Ohren gekommen war, dass der unbesiegbar erscheinende al Hakam bei einem Festmahl im Alcázar von Toledo fünftausend Edle grausam hatte ermorden lassen, um jegliche Unabhängigkeitsbestrebungen dieser Stadt zu brechen.
König Karl hatte sein Pferd bereits bestiegen, als ihm plötzlich einfiel, sich an Ort und Stelle noch einmal ein Bild vom Fortgang der Bauarbeiten an seiner künftigen Kirche zu machen. Odo und Iosefos waren entgeistert. Sie hatten sich bereits beglückwünscht, dass ihr großes Problem an der Nordwestwand erst so kurz vor der Abreise des Königs aufgetaucht war, sie es also vor ihm gerade noch würden verbergen können. Jetzt blieb nur die Hoffnung, dass Karl und seinem Schreiber-Architekten das peinliche Missgeschick entgehen würde.
Iosefos murmelte Ezra auf Arabisch etwas zu. Sie zupfte Lucas am Arm und bedeutete ihm, mit ihr eilig das Gerüst an der Südwand emporzuklimmen, während die Väter unten den König mit Erläuterungen noch etwas hinhielten.
Beim Aufstieg musste Ezra gegen Schwindel ankämpfen; Durst und Hunger plagten sie, da sie seit Sonnenaufgang nichts mehr zu sich genommen hatte. Sie versuchte, das Flimmern vor den Augen und das Knurren ihres Magens zu ignorieren. Oben angelangt, entriss sie einem Maurer die Kelle und begann, an einer Ecke eilig ein paar frisch eingesetzte Steine aus dem noch weichen Mörtel zu entfernen. Lucas begriff schnell. Der König sollte erkennen, wie die tief in Stein und Mörtel gesetzten langen Stangen des zweiten Eisenringankers an den Ecken miteinander verbunden worden waren. Damit er nicht auf den Gedanken käme, sich den neu gemauerten Teil der Nordwestwand genauer anzusehen. Jene Lücke, die das Problem sichtbar gemacht hatte.
Als sie die munter plaudernde Stimme des Königs hörten, legten die Baumeisterkinder die Werkzeuge zur Seite und verbeugten sich tief. Vom Gerüst aus sah sich der Herr des Frankenreichs die freigelegte Stelle an.
»Über und unter den Stangenenden liegen kurze Eisenplatten«, erläuterte Odo. Er war völlig außer Atem. Einen derart schnellen Aufstieg mutete er sich sonst nie zu. »Jede Stange hat zwei Löcher über den Augen, die mit vertikalen Keilsplinten fixiert und gespannt werden.«
»Sieht aus wie ein Knoten«, bemerkte Karl, »aber reicht das zur Stabilisierung?«
»Mit Bleiverguss gesichert«, setzte Iosefos, karg wie immer, hinzu.
»Sehr erfinderisch«, lobte der König. »Ich vermute, dahinter stecken die langobardischen Schmiede?« Freundlich lächelte er zu Ezra hinauf. »Oder hat mein lieber Architectulus nächtens eine Vorlage zu diesem Geniestreich gezeichnet?«
Karls Blick schweifte zur gegenüberliegenden Wand. Er verengte die Augen.
»Mir scheint, es gibt jenseits ein Ungleichgewicht«, bemerkte er und deutete auf die noch nicht zugemauerte Lücke. »Irre ich mich, oder werden die Steine der Mauern dort drüben nicht recht aufeinandertreffen?«
Genau das war das Problem. Man hatte etwas zu hastig von zwei Seiten aufeinander zu gemauert und war nicht genügend höhengerecht ausgekommen, um in der
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