Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
entbunden.
Allerdings konnte auch am Sonntag auf Wachen an der großen Baustelle nicht verzichtet werden. Doch die Männer hatten nichts weiter zu tun, als darauf zu achten, dass kein Unbefugter ein Gerüst erklomm oder sich an Werkzeugen oder Material zu schaffen machte. Ezra nickte einem der Wachen zu, der von einer Gruppe Neugieriger umringt war und auf die acht am Boden liegenden langen Eisenstangen deutete, die Alboin und seine Männer für den ersten Ringanker geschmiedet hatten. Der Mann erklärte, die Stangen würden demnächst ganz oben eingemauert und miteinander verbunden werden, um die entstehende Kuppel zu umklammern.
»Das ist doch richtig, Architectulus?«, rief er Ezra zu.
Sie nickte. Während sie auf das Gerüst zueilte, sah sie, wie der Wächter einem Knaben erlaubte, seinen Finger durch das eingeschmiedete Auge am Ende einer Stange zu stecken, und wie er zwei Männer davonscheuchte, die versuchten, eine der schweren Stangen anzuheben.
Ezra erstieg das Außengerüst im Westen, dort, wo ein turmartiger Anbau aus dem Sechzehneck hervorstach, und kletterte hinauf, bis sie das oberste Brett erreicht hatte. Sie setzte sich hin, ließ die Beine baumeln und blickte in die Tiefe und auf die Landschaft um sich herum. Von den Türmen Bagdads aus hatte sie auf eine unendlich große Stadt geblickt, hinter der man die Wüste nur erahnen konnte. Von der höchsten Erhebung Aachen s aus sah sie eine in Prophetengrün gebettete Ansiedlung: bewaldete Hügel, so weit das Auge reichte.
Viele Bewohner hatten das schöne Wetter des freien Tages genutzt, um sich der künftigen Pfalzkapelle so weit zu nähern, wie es ihnen eben erlaubt war. Besorgt blickte Ezra auf eine kleine Gruppe edel gewandeter Männer, die offensichtlich dem Hof angehörten. Sie hoffte inständig, sie würden nicht gleichfalls auf den Gedanken kommen, das Gerüst zu erklimmen und sie ihrer kostbaren Ruhe zu berauben.
Wiewohl sie den letzten Brief von Lucas fast auswendig kannte, las sie das ungewöhnlich lange Schreiben noch einmal durch. Hierin meldete Lucas erstmals Zweifel am Gelingen des großen Bauvorhabens an.
Du, Xenia, hast von Steinen gesprochen, die uns auf den Kopf fallen könnten, schrieb er, und jetzt sind solche gleich zwei Mal herniedergekommen. Erst brach der Sturz eines Fensterwerks ein, da die Steine nicht passend zugeschlagen worden waren. Dies hatte zum Glück keine weiteren bösen Folgen, ganz anders als der zweite Vorfall.
Er schilderte den plötzlichen Einsturz des Gewölbes auf dem oberen Umgang und den Tod des Steinsetzers. Ich rannte hin, um ihm zu helfen. Wahrscheinlich hätten mich die Steine dann auch erschlagen. Aber mir war, als hörte ich deine Stimme, als riefest du vernehmlich: »Nein, Lucas!« Da blieb ich stehen. Das ist natürlich Unsinn, aber deine Stimme in meinem Kopf hat mich zurückgehalten und mir das Leben gerettet. Doch nach dieser Krise frage ich mich, ob es tatsächlich möglich ist, in solch schwindelerregender Höhe eine derart riesige Kuppel zu wölben. In meinen Träumen bricht sie so in sich zusammen wie die erste Kuppel der Hagia Sophia. Wie nur können wir ein solch hohes Lehrgerüst auf- und wieder abbauen? Dein Oheim scheint es zu wissen, lässt uns aber an seiner Kenntnis nicht teilhaben. Ich habe Angst davor, dass mein Wissen um die Architektur zu gering ist, und ich ahne, dass meinen Vater ebenfalls Zweifel plagen, aber er scheint seit einiger Zeit großes Vertrauen in die Kunst deines Oheims zu setzen und streitet sich mit ihm erheblich weniger als früher. Leider hält es Meister Iosefos für unter seiner Würde, mir Fragen zu beantworten, die über die augenblicklichen Notwendigkeiten hinausgehen. Nur mein bester Freund, dein Vetter Ezra, dem ich unendlich dankbar bin, dass er uns miteinander in Verbindung hält, ahnt wohl, welche Sorgen mich bewegen. Doch die Verständigung mit ihm ist kompliziert. Ich wünschte, er könnte reden! Der Gedanke an dich und deine Zuversicht geben mir Mut ein. Über ein aufmunterndes Wort von dir würde ich mich sehr freuen. Über jedes Wort von dir. Ich sehne den Tag herbei, an dem ich dir dein grünes Seidenband wieder ums Handgelenk binden darf.
Ezra führte den Brief zum Mund, küsste ihn und verstaute ihn sorgsam in ihrem Kittel. Es liegt in Allahs Hand, dir die Augen zu öffnen, Lucas, dachte sie. Erst wenn du mich erkannt haben wirst, dürfen wir zueinanderfinden. Bis dies geschieht, werden wir Briefe schreiben müssen. Und wenn es nie
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