Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
gleichstellte. Gerswind hatte Ezra erzählt, wie des Königs Sohn Ludwig gegen die Pläne seines Vaters gewettert habe.
»Er sähe alle Sachsen am liebsten tot«, hatte sie gesagt.
Ezra hatte keine Ahnung, womit sie den Mann verärgert hatte, der nur wenig älter als sie selbst war, aber bereits eine Familie hatte. Sie kannte ihn kaum, hatte ihn in den vergangenen Jahren nur selten zu Gesicht bekommen. Für sie war er zunächst nur eines der zahlreichen Kinder König Karls gewesen. Doch Gerswind hatte sie vor ihm gewarnt und ihr ans Herz gelegt, ihm aus dem Weg zu gehen.
»Er vernichtet so viele Götter, dass er irgendwann gewiss auch seinem eigenen Gott Schaden zufügen wird«, hatte sie gesagt und flüsternd hinzugefügt: »König Karl ist recht froh, dass er die meiste Zeit weit weg in Aquitanien weilt.«
Das allein hielt Ezra schon für eine ungeheuerliche Aussage, da sie miterlebte, wie glücklich der König war, wenn er seine Kinder um sich versammeln konnte.
»Architectulus! Steig herab, wenn dir dein Leben lieb ist! Der König von Aquitanien verlangt dein augenblickliches Erscheinen.«
Dem hatte sie sich zu fügen.
Sie sammelte ihr Schreibwerkzeug wieder ein, verstaute es im Beutel und begab sich auf den Abstieg. Was wollte der jüngste Sohn des Königs von ihr?
Ludwig hielt sich mit keiner Vorrede auf.
»Was tust du hier?«, fuhr er Ezra an. Sie blickte ihm geradewegs ins Gesicht. Das sie durchaus ansehnlich gefunden hätte, wäre da nicht dieser Zug um den Mund gewesen. Diese vorgeschobene, hängende Unterlippe und die leicht geblähten Nüstern. Ezra, die es sich im Frankenland mühsam abgewöhnt hatte, blaue Augen als kalt, böse oder feindselig wahrzunehmen, fiel es schwer, dem eisigen Blick nicht auszuweichen, aber sie hielt stand.
»Nun?«, fuhr Ludwig sie an.
»Der Architectulus kann nicht sprechen«, warf einer seiner Begleiter ein.
»Gott wird schon wissen, weshalb er ihn mit Stummheit gestraft hat«, versetzte Ludwig. »Und er wird diesem Halunken noch übler zusetzen, da er seinen heiligen Tag schändet.«
Er trat auf Ezra zu und packte sie nahe ihres Halses am Kittel.
»Du bist eine Missgeburt«, beschied er ihr. »Mein Vater hat zu viel Geduld mit dir. Das wird aufhören, wenn ich ihn wissen lasse, dass du seine Kirche am heiligen Sonntag mit deiner Arbeit besudelst.«
Ezra schüttelte den Kopf.
»Ach«, sagte Ludwig. »Du hast nicht gearbeitet?« Er riss ihr den Beutel von der Schulter und sah sich in der Runde seiner Getreuen um. »Wer hält dagegen, dass ich hierin eine frische am heiligen Sonntag hergestellte Bauzeichnung finden werde?«
Er griff in den Beutel und zog triumphierend die Gänsefeder heraus. Als Nächstes ergriff er das Tongefäß. Er schleuderte es zu den Eisenstangen hin, über die sich die Tinte des Schlehendorns ergoss, als es zerschellte.
»Und jetzt«, sagte er, »kommt der Beweis für deinen Ungehorsam. Wir werden ihn augenblicklich vernichten.«
Sehr langsam zog er das Stück Pergament aus dem Hanfbeutel. Er sah es sich an. Seine Mundwinkel sanken tiefer.
»Was soll das?«, fuhr er Ezra an und las mit fragender Stimme vor: » Das Wissen ist ein Schloss, dessen Schlüssel die Frage ist?«
»Keine Zeichnung?«, fragte einer seiner Begleiter.
Ludwig hielt das Pergament hoch.
»Schlimmer«, fauchte er und trug den letzten Satz laut vor: »Das beste Wissen ist nämlich das, was du kennst, wenn du es brauchst.«
Schwer atmend, stieß er Ezra eine Faust vor die Brust. »Wissen!«, schrie er. »Am Sonntag verfasst du eine Schrift über Wissen! Gott ist das Wissen!«
Ezra holte tief Luft und nickte. Er hatte recht. Worin lag also der Widerspruch?
Ludwig klärte sie augenblicklich auf.
»Der Mensch hat nicht zu wissen. Er hat zu glauben!«
Der König sprach die lingua romana . Ezra konnte ihn nicht missverstehen, aber sie konnte seine Worte nicht deuten. Dafür begann sie zu ahnen, wovor Gerswind sie gewarnt hatte.
»Lass uns gehen«, schlug jemand aus Ludwigs Gefolge vor. »Er hat schließlich seine Arbeit nicht weiter vorangetrieben. Nur dummes Zeug geschrieben.«
»Gefährliches Zeug«, verbesserte Ludwig. Er warf dem Wärter das Pergament vor die Füße und deutete die Straße hinunter, wo ein kleines Mädchen einem Schwein hinterherrannte.
»Lauf«, forderte er ihn auf. »Fang die Sau ein und stopfe ihr das Maul mit diesem Frevel!«
Er bedachte Ezra mit einem verächtlichen Blick und zog mit seinen edel gewandeten Männern weiter.
Ezra
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