Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
dritten Reihe die Stangen des nächsten Ringankers waagerecht platzieren zu können.
»Es handelt sich um eine optische Täuschung«, erklärte Iosefos und setzte zu einer langen komplizierten Erklärung über Irrtümer der Sehwerkzeuge an. Der König unterbrach ihn.
»Wenn du, Iosefos aus Konstantinopel, so viele Worte machst, habt ihr ein Problem. Seht zu, dass ihr es löst. Wenn ich im nächsten Frühjahr aus meinem Winterquartier zurückgekehrt bin, möchte ich eine geschlossene Kuppel vorfinden.«
Er begab sich an den Abstieg.
Die beiden Baumeister sahen einander betroffen an. Stellte sich der König etwa vor, dass sie bei Schnee und Eis weiter würden mauern können? Gegen die ersten Nachtfröste würden sie das frische Mauerwerk noch mit Jute schützen oder mit Stroh abdecken können, doch bei Dauerfrost konnte die Mauer nicht weiter hochgezogen und die Kuppel keinesfalls geschlossen werden. Sie hatten dem König doch schon im Vorjahr auseinandergesetzt, wie schädlich sich Frost auf das Anmachwasser für den Mörtel auswirkte! Nicht etwa, dass im Winter alle Arbeiten ruhten; da wurden Vorbereitungen für das kommende Jahr getroffen, beispielsweise Profilsteine und Gesims zugeschlagen, aber ans Steinesetzen war zu dieser Jahreszeit nicht zu denken.
»Steig mit hinab, Architectulus«, rief der König hinauf. »Ich habe eine neue Aufgabe für dich.«
Ezra sah Lucas an, öffnete den Mund, stieß geräuschvoll den Atem aus und legte voller Erschöpfung die Hände gekreuzt auf die Brust. Punkte tanzten ihr vor den Augen. Ihre Kehle war ausgetrocknet, und ihre Beine zitterten.
»Du schaffst das schon, Ezra«, sagte Lucas. »Der König wird nichts Unmögliches von dir verlangen. Er mag dich.«
Der König verlangte nichts Unmögliches, sondern eine ganz besondere Zeichnung.
»Spätestens im nächsten Sommer möchte ich meine Säulen aufstellen«, sagte er zu Ezra, als er sie zur Seite nahm. »Einhard wird dir zeigen, wo sie gelagert sind. Es hat mir damals gefallen, wie du sie in den Arkaden auf deiner Sandzeichnung übereinandergestellt hast, sehr ungewöhnlich, aber für meine Zwecke durchaus passend.« Er stieß Einhard an, lachte und verkündete lauter: »Es sind nämlich sehr viele Säulen! Und sehr alte. Deshalb wage ich es nicht, ihnen zu viele Lasten aufzubürden. Wähle also du, Architectulus, in Absprache mit Einhard, welche Säulen an welcher Stelle stehen sollen, fertige dazu sorgfältige Zeichnungen an, und mein Beseleel wird dafür sorgen, dass sie mich im Sachsenland erreichen.«
Er strich Ezra das wirre Haar aus der Stirn, stutzte kurz, setzte dann wieder leiser und nur für sie vernehmlich hinzu: »Meine Säulen werden, wie so manches im Leben, eine andere Aufgabe erfüllen, als ihnen ursprünglich zugedacht war. Vielleicht aber ist das ihre wahre Bestimmung. Pass gut auf dich auf, Architectul…us.«
Der König schwang sich auf sein Pferd und ritt davon. Fragend sahen Einhard, Odo, Iosefos und Lucas zu Ezra hinüber, doch diesmal blieb auch ihr Wachstäfelchen ohne Worte.
Das Ende des Ramadans feierte Ezra in Alboins Hütte.
Heda jubelte vor Entzücken, als sie die mit Honig überzogenen gerösteten Walnüsse kostete, die Ezra an diesem Abend, der ihr so viel bedeutete und von dem die anderen nichts wussten, mitgebracht hatte. Dunja hatte den ganzen Tag über im Küchenhaus gestanden, um weiteres Naschwerk für sie zu bereiten. Und der Küchenmeister hatte seinen Koch beauftragt, ihr zur Hand zu gehen und sich gut zu merken, wie diese Köstlichkeiten aus Konstantinopel zubereitet wurden, die Mandelkuchen, das Spritzgebäck und die seltsam geformten Törtchen, in denen Pflaumen die Rolle der Datteln übernommen hatten.
»Ich bin froh, dass es vorbei ist«, sagte Dunja zu Ezra, als sie ihr den mit Leckereien gefüllten Korb aushändigte. »Ich hatte schon Angst, du wirst uns krank. Die Christen fasten mehrmals im Jahr, aber so kurz, dass es erträglich ist. Und sie dürfen dabei trinken. Dein Allah kann doch nicht wollen, dass du dich geschwächt durch den Tag schleppst!«
An jenem Abend des Fastenbrechens zeigte Alboin vor der Feuerstelle in der kleinen Hütte, wie er einen stabilen ansteigenden Ringanker in die unregelmäßig gesetzten Steine der Nordwestmauer setzen und damit das Höhenproblem an der Mauer lösen könnte.
»Kürzere Stangen«, sagte er, »die sollten reichen, um das Mauerwerk festzuhalten. Weiter oben kommen schließlich keine Schubkräfte hin, die aufgefangen werden
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