Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
müssen.« Er schmunzelte. »Meine Arbeiter werden sich freuen, dass sie nicht noch weitere lange Stangen schmieden müssen!« Mit einem Stück Kohle malte er Striche auf den Stein vor sich. »Und wenn wir dann die kurzen Stangen einfach mit umgeschmiedeten Haken und Ösen verbinden, haben wir einen regelrechten Eisenklammerring.«
Er fragte Ezra, ob die beiden alten Baumeister dieser Lösung wohl zustimmen würden.
Die Verständigung mit ihm ist kompliziert , dachte sie und mühte sich, keine Verbitterung aufkommen zu lassen. Lucas sollte einmal miterleben, wie leicht es Alboin fiel, sich mit ihr zu verständigen. Der Schmied begriff immer unverzüglich, was sie ihm mitteilte. Das mochte sicher daran liegen, dass ihn der Höllenlärm an seiner Arbeitsstätte schon früh gezwungen hatte, Gesten und Mienenspiel richtig zu deuten.
»Dann komme ich also morgen auf die Baustelle, spreche mit den beiden und nehme gleich Maß«, sagte er. »Es gibt nur ein kleines Problem: Dieser Anker kann nicht mit Bruchsteinen unterfüttert werden.«
Mit Ziegeln, überlegte Ezra, als sie Heda anblickte, die einst in einer römischen Ruine gehaust hatte, deren Ziegel inzwischen wahrscheinlich schon längst zu Mehl zermalmt und in den Mörtel eingebracht worden waren. Aber es gab immer noch reichlich Ziegel in Aachen . Mit deren Rot dereinst der gesamte Wüstenturm verputzt werden sollte.
Das Leben erschien ihr wunderbar, als sie später endlich ordentlich gesättigt heimwärts ging. Ihr Vater hatte recht gehabt; sie würden trotz kleiner Rückschläge in der Lage sein, diese ungeheuerliche Kuppel zu bauen. Weil alle, die daran mitwirkten, an einem Strang zogen; jeder Baumeister, jeder Schmied, jeder Steinmetz, jeder Zimmermann. Sie alle waren beseelt von dem Gedanken, zu etwas im Frankenland noch nie Dagewesenem beizutragen. Alles fügte sich ständig neu zu einem großartigen Ganzen.
Ezra konnte nicht ahnen, dass gerade eine solche Fügung, ein Zusammenspiel verschiedenartiger Kräfte, schon am nächsten Tag eine Katastrophe heraufbeschwören würde, die ihr Leben belasten und von grundauf ändern sollte.
Heda hatte sich in den vergangenen Jahren aus gutem Grund von der Baustelle ferngehalten. Doch an jenem Tag, an dem Alboin den beiden Baumeistern seinen Vorschlag zur Lösung des Problems an der Nordwestwand unterbreiten wollte, überwand sie ihre Furcht, einem ihrer ehemaligen Freier begegnen zu können. Schließlich musste sie ihrem Mann das Essen bringen. Heda beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sehr viel Zeit vergangen war und sehr viele Menschen auf der Baustelle ausgewechselt worden waren, seitdem sie jener Tätigkeit nachgekommen war, zu der sie erst Fredo und später die Not gezwungen hatte. Also packte sie die Reste von Ezras Festmahl ein. Den Säugling ließ sie bei der Magd, nahm ihren kleinen Sohn, der inzwischen ebenfalls auf den Namen Alboin getauft worden war, an die Hand und machte sich mit Herzklopfen auf den Weg.
Lucas stieß Ezra an. »Schau mal hinunter«, sagte er. »Was spielt sich nur dort unten ab?«
Etwas unwillig wandte sich Ezra um. Sie wollte nichts von den Ausführungen verpassen, die Alboin gerade Odo und ihrem Vater an Ort und Stelle unterbreitete. Sie warf einen Blick nach unten und erstarrte. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie musste etwas tun, und zwar schnell, bevor Alboin Wind von dieser üblen Sache bekam und möglicherweise Fürchterliches geschah. Sie musste Heda zur Ordnung rufen, sie daran erinnern, dass sie jetzt eine rechtschaffene Ehefrau war. Was fiel ihr ein, sich von diesen neuen Zimmerleuten, die unten an den Gerüstbauten arbeiteten, in aller Öffentlichkeit umarmen und kosen zu lassen? Ihr Kind diesen fremden Kerlen in die Arme zu drücken? Von einem zum anderen zu fliegen und jeden Mann abzuküssen?
Eilig stieg sie hinab. Lucas folgte ihr.
»Willst du etwa an dieser seltsamen Volksbelustigung teilhaben?«, fragte er ungläubig.
Ezra achtete nicht auf ihn, sprang vom letzten Brett hinunter, eilte auf die Gruppe der Männer zu, die Heda fast zu erdrücken schienen, und schob die ersten zur Seite.
Heda wandte sich um. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Freudentränen.
»Zauberer!«, rief sie, breitete entzückt die Arme aus und verkündete: »Meine Brüder! Sie sind alle aus Prüm hergekommen, um hier zu arbeiten! Und meine Vettern auch! Meine Familie ist hier, Zauberer! Endlich sehe ich sie wieder! Ist das nicht ein Wunder?« Sie deutete nach oben und sagte voller Stolz
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