Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
gefällt worden? Nein, es lag nicht in der Macht sterblicher Menschen, und seien sie auch Könige, zu bestimmen, wann oder wie Gott zu urteilen hatte. Ihr Vater war durch einen Unfall ums Leben gekommen, nicht durch ein Gottesurteil. Wenn überhaupt, dann hatte Gott sein Urteil damals in Konstantinopel gesprochen, als Iosefos mit seinem Meister vom Gerüst gestürzt war und überlebt hatte.
Weshalb kann ich nicht trauern? Nicht einmal weinen? Weshalb denke ich im Angesicht seines Todes an die mögliche Schuld, die er einst in Konstantinopel auf sich geladen haben mag? An die Freiheit, die mir sein Tod verschafft? Ich bin eine schlechte Tochter; mein Herz ist so kalt wie der Körper des Mannes, dem ich mein Leben verdanke. Führe mich, Allah, berühre meine Seele und schenke mir die Trauer, die mein Vater verdient hat.
Sie schaute auf das Gesicht des Toten, das im Licht der Fackel unvertraut wirkte. Gespenstisch wächsern. Es gehörte dem Vater, den sie ein Leben lang gekannt hatte, der ihr jetzt jedoch so unfassbar weit entrückt war, dass sie vor sich selbst und ihren Gedanken erschrak.
Sie blickte nach oben in den dunklen Himmel. Da, wo irgendwann eine Kuppel hatte entstehen sollen. Die wohl nie entstehen würde, da der einzige Mensch, der sie in solcher Höhe und Weite zu wölben verstanden hätte, nicht mehr lebte. Er hatte sein Wissen für sich behalten, wie einen Trumpf, den er erst im entscheidenden Moment auszuspielen gedachte. Nicht einmal Odo hatte er eingeweiht, wiewohl ihn dieser immer wieder beschworen hatte, seinem Starrsinn im Interesse Gottes, des Königs und ihrer gemeinsamen Aufgabe ein für alle Mal zu entsagen. Mehrmals hatte er Ezra beschworen, auf ihn einzuwirken.
Iosefos hatte gelacht, als ihm seine Tochter die Zeichnung des möglichen Lehrgerüsts vorlegte, das sie mit Odo und Lucas in einer langen Nacht ersonnen hatte.
»Weitaus zu aufwendig«, hatte er gesagt. »Wie sollen denn diese Unmengen von Holz im Oktogon auf- und wieder abgebaut werden? Wie soll man da arbeiten? Wie willst du das ganze Gefüge stabilisieren?«
Sie hatte mit den Schultern gezuckt, was so viel wie sag du es mir bedeuten sollte.
»Ihr werdet alle staunen«, hatte Iosefos gesagt. »Die Lösung ist ganz einfach.«
Was hatte er damit gemeint? Wie konnte es einfach sein, ein weit gewölbtes Halbrund aus Steinen auf diesen hohen Turm zu setzen? Mit den Eisenringankern hatten sie nur das Mittel gefunden, die Schubkräfte der fertigen Kuppel aufzufangen. Das Geheimnis, wie diese aber überhaupt gemauert werden, wie ein Lehrgerüst dafür gebaut werden konnte, würde Iosefos jetzt mit ins Grab nehmen.
»Du gibst mich also frei?«
Gänzlich in ihre Gedanken versunken, entgingen Ezra Verzagtheit und Verzweiflung in Dunjas Stimme. Sie nickte.
»War ich dir eine gute Mutter?«, fragte Dunja. Ezra bewegte die Lippen, aber antwortete nicht. Dunja fasste an ihre merowingischen Silberohrgehänge, als könnte sie dadurch ihren Gehörsinn stärken. Sie wiederholte ihre Frage lauter.
Ezra schüttelte ungehalten den Kopf. Schweig, dachte sie. Ich will jetzt nicht reden, sondern mich ganz dem Gedenken meines Vaters und seines Geheimnisses widmen. Vielleicht versucht seine Seele, mit mir Verbindung aufzunehmen, bevor sie durch die hohe Öffnung des Oktogons gänzlich in die Ewigkeit entweicht. Ich muss empfänglich für die Botschaft bleiben, darf mich durch nichts ablenken lassen. Allah, du Allmächtiger Aller, gebe die Weisheit meines Vaters an mich weiter! Lasse deine Zauber walten!
»Nein?«, schrie Dunja. »Ich war dir keine Mutter?«
Es war vorbei, die Konzentration gebrochen. Die Seele ihres Vaters schwebte ungehindert weiter, ohne dass Ezra auch nur einen Zipfel von ihr hatte erhaschen können.
»Du bist nicht meine Mutter«, fauchte sie Dunja an.
»Habe ich denn nicht wie eine Mutter für dich gesorgt?«
Ezra hob die Schultern. Was sollte sie darauf antworten? Davon verstand sie nichts. Sie hatte nie eine Mutter gehabt. Dunja sollte sie in Ruhe lassen. Doch das tat sie nicht.
»Dann sage mir doch, da du jetzt wieder sprichst, was ich für dich bin.«
Ezra unterdrückte ein Stöhnen. Was bezweckt Dunja nur mit dieser Fragerei?, dachte sie. Weshalb spricht sie überhaupt? Zu einem Zeitpunkt, da doch Stille angemessen ist. Sie ist eben nur eine Sklavin, ein schlichtes Gemüt. Nur das konnte sie ihr schlecht sagen.
»Du bist Dunja«, erklärte sie gnädig und hoffte, damit den Fragen ein Ende gesetzt zu haben.
Dunja
Weitere Kostenlose Bücher