Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
zu Ezra hin.
Seine Worte verstörten sie noch mehr. Sie musste etwas richtigstellen, dem Tod zumindest eine Wahrheit abtrotzen.
»Sie war nicht meine Mutter«, erklärte sie und brach in Tränen aus.
Die Fackel fiel zu Boden. Entgeistert blieb Lucas stehen und blickte über Dunjas Leichnam hinweg zu Ezra, die am Boden kauerte und am ganzen Leib bebte. Und die mit jener Stimme gesprochen hatte, die seit Monaten nur in seinen Träumen erklungen war. Das konnte nicht sein! Er musste sich verhört haben.
»Was hast du gesagt?«
»Dunja war nicht meine Mutter.«
In der Tat. Die Stimme war unverkennbar. Der letzte Zweifel schwand.
»Xenia! Xenia !«
Ezra hielt sich die Ohren zu. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Knie wollten ihr nicht gehorchen. Langsam strich sie sich mit beiden Händen das wirre Haar aus dem Gesicht, hob abwehrend die Arme, als Lucas näher kam, und schrie ihn an: »Xenia ist tot! Wie alle, die hier sind! Verstehst du, Lucas: alle tot, alles tot!«
Nachdem sie gesagt hatte, was gesagt werden musste, strömte eine ungeheuerliche fremde Kraft durch Ezras Adern. Mit einem Satz sprang sie auf. Wie von einer wahnwitzigen Macht gesteuert, begann sie, sich im Kreis zu drehen. Erst langsam, dann so schnell, dass die Haare flogen. Im wilden Tanz fegte sie die Fackel vom Boden und zog mit ihr glühende Kreise durch die Luft. Sie war außer sich. Alles sollte in Flammen aufgehen! Jeder Stein schmelzen! Jegliches Leben vernichtet werden! Auch ihres.
»Halt ein!«, schrie Lucas, doch sie hörte ihn nicht. Verzweifelt umrundete er den Flammenkreis, nicht wissend, wie er diesem Wahnsinn ein Ende bereiten könnte. Ezras Totentanz ließ keine Annäherung zu. Das so unvermittelt irrsinnig gewordene Geschöpf reagierte weder auf Rufe noch auf Flehen. Wasser, dachte er, Wasser, doch bis er es geholt hätte, könnte sich Ezra schon zu Tode getanzt und selbst verbrannt haben.
Da stieg plötzlich aus den Tiefen seiner Erinnerung ein Wort auf. Ein Wort, das zu Ezra und Xenia gehörte. Zu niemandem sonst. Ein Wort, das mit ihm zu tun hatte, obwohl er nicht wusste, weshalb. Ein Wort, das viel zu kompliziert war, um es herauszuschreien. Als müsse er die Laute erst üben, sprach er es verhalten flüsternd aus: »Chrysotriklinium.«
Ezra hielt schlagartig inne. Sie taumelte und wäre beinahe gestürzt. Als sie ihr Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, legte sie die Fackel vor sich nieder und blickte zu dem Mann neben der Säule. Er war nicht viel größer als sie selbst. Im Halbdunkel konnte sie seine Züge nicht erkennen, nur dass er von schlanker Gestalt war und fränkische Tracht trug. Wer er war, wusste sie nicht, doch sie hieß die menschliche Präsenz in diesem Wüstenturm willkommen.
»Du hast recht«, sagte sie leise und schaute nach oben, wo schwarze Wolken den Sternenhimmel verfinstert hatten. Ihre Stimme schien von weither zu kommen, als sie hinzusetzte: »Wahrlich eindrucksvoller als das Chrysotriklinium. Und jetzt soll uns der Vogel wieder heimbringen.«
Damit sank sie in sich zusammen.
Lucas näherte sich auf Zehenspitzen und hockte sich neben sie nieder. Er wagte es nicht, sie zu berühren. War sie ohnmächtig geworden oder schöpfte sie Kraft für den nächsten Ausfall?
Er überlegte, ob er sie kurz allein lassen könne, um eine Decke aus der nordöstlichen Ecke zu holen. Da öffnete sie die Augen.
»Xenia«, sagte er.
Mühsam setzte sie sich auf und berührte flüchtig das grüne Band an seinem Handgelenk.
»Nein«, erwiderte sie. »Ich bin Ezra. Du kennst mich. Nicht du täuschst dich, Lucas. Ich habe dich getäuscht. Es tut mir leid.«
Ihre Augen blickten klar, und ihre Stimme klang ruhig. Nichts erinnerte mehr an das Wesen, das noch vor wenigen Augenblicken wie besessen mit einem Feuerstab in der Hand umhergewirbelt war. Keine Spur von Wahnsinn mehr, nicht einmal von Erschöpfung oder Atemlosigkeit.
Ezra selbst hätte nicht sagen können, was mit ihr geschehen, was in sie gefahren war.
Ein böser Dämon, dachte sie. Er hat von mir Besitz ergriffen. Dann hat ihn ein alter Traum in die Flucht geschlagen und mich in die Wirklichkeit zurückgeholt. Mein Wüstenturm hat mir den Verstand zurückgegeben. Und den brauche ich jetzt auch. Den Verstand und den Wüstenturm.
Sie stand auf und sah sich um.
»Hilf mir«, sagte sie zu Lucas und nickte zum nordöstlichen Teil des Oktogons hinüber. »Wir tragen Dunja dorthin, wo auch mein Vater liegt. Dort werden wir sie beide beerdigen.«
Lucas sah sie
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