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Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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schwer. Er begann zu husten und hielt sich mit der guten Hand die Brust.
    »Iosefos!«, schrie Odo noch einmal. Er sprang auf das Gerüst und streckte die Arme aus. Zu spät. Iosefos hatte bereits das Gleichgewicht verloren.
    Ein gellender Schrei löste sich aus seiner Kehle, als er in die Tiefe stürzte.

kapitel 10
    der boden
    Gedulde dich in des Geschickes Bitterkeit und Süße;
    Und wisse, Gott kann, was er will, zu Ende führen.
    Die Sorgen können über Nacht Geschwüren gleichen,
    Die du gepflegt hast, bis sie ihre Heilung spüren.
    Die Schicksalsschläge fallen über uns einher.
    Und schwinden aus dem Sinn, als wären sie nicht mehr.
    Aus 1001 Nacht (die 831. Nacht)
    D ie Dunkelheit war bereits angebrochen, doch Ezra und Dunja harrten noch immer im Zentrum des Oktogons aus. Sogleich nach der Katastrophe hatte Lucas den toten Baumeister dort hineingetragen, um ihn vor den Augen der Neugierigen zu schützen. Außerdem wollte er Ezra Zeit geben, unbeobachtet seines Entsetzens Herr zu werden und sich von seinem Vater verabschieden zu können. Odo hatte deshalb Wachen vor den Eingang stellen lassen. Lucas war dann davongejagt, um die traurige Nachricht Dunja zu überbringen. Die wehrte jegliche Anteilnahme ab. Sie warf sich ihren Umhang über, steckte ihn rasch mit jener merowingischen Bronzefibel fest, die Iosefos beim Ausschachten des Fundaments gefunden hatte, eilte an die Stelle der Tragödie und zog sich zu Ezra ins Oktogon zurück.
    In respektvollem Abstand warteten die Menschen viele Stunden darauf, dass der Leichnam des verunglückten Baumeisters hinausgetragen würde. Doch seine Hinterbliebenen ließen selbst nach einem halben Tag nicht zu, dass irgendjemand dem leblosen Körper nahe kam oder ihn gar fortschaffte. Dadurch blieb Ezra und Dunja das Gerücht erspart, das erst als Raunen durch die Reihen ging und später zu der lautstarken Verkündigung führte: »Meister Odo ist schuld! Er hat Meister Iosefos hinabgestoßen!«
    Aufgebracht stellte sich Lucas der Menge und verteidigte seinen Vater, der in die Werkstatt geflüchtet war. Doch niemand wollte auf den Baumeistersohn hören, der zum Zeitpunkt des Geschehens bei den Zimmerleuten fernab auf dem Erdboden geweilt hatte.
    Erst das mutige Eintreten Alboins brachte die bösen Rufe zum Verstummen. Der Schmied, der auf der Mauer nahe den Baumeistern Maß genommen hatte und zudem hohes Ansehen genoss, schwor, genau gesehen zu haben, wie Meister Odo versucht hätte, den Sturz des Iosefos aufzuhalten.
    Als sich am frühen Abend die Menge zerstreut hatte, wagte Lucas einen erneuten Vorstoß, Ezra und Dunja zur Herausgabe des Leichnams zu bewegen. Mit einer kleinen Fackel betrat er den künftigen Dom.
    »Wir sollten unserem verehrten Meister Iosefos jetzt die Ehre erweisen und ihn ins Haus tragen«, sagte er. Wiewohl er nur flüsterte, hallte seine Stimme vernehmlich durch den Raum.
    »Nein«, erwiderte Dunja hart.
    »Es ist kalt«, entgegnete Lucas, ohne einen Schritt näher zu treten. »Vielleicht wird es schneien. Ihr könnt doch nicht die ganze Nacht unter freiem Himmel verbringen.«
    »Das können wir«, entgegnete Dunja, von der er in all den Jahren nie zuvor ein Widerwort vernommen hatte.
    Der Architectulus gab keine Zeichen und blickte nicht auf, doch seine Haltung ließ keinen Zweifel daran, dass auch er nicht gewillt war, die Totenwache auf der Baustelle aufzugeben.
    Lucas verließ die beiden und kehrte mit Decken, Brot und einem Kessel heißer Suppe zurück. Zusätzlich stellte er ihnen eine Fackel hin.
    »Kann ich noch irgendetwas für euch tun?«
    »Lass uns allein«, antwortete Dunja, während sie eine Decke um Ezra legte.
    »Dann werde ich euch später neues Licht bringen«, sagte Lucas hilflos und ging fort.
    »Was soll jetzt nur werden!«, rief Dunja, als sie wieder allein waren. »Dein Vater war doch unser Leben.«
    Sie beugte sich hinab, streichelte dem Toten die Wange und murmelte: »Ich war sein Eigentum, Ezra. Jetzt bin ich deins. Du hast mich geerbt.«
    Erschrocken blickte Ezra auf. Diese Verantwortung konnte sie nicht tragen. Sie mochte nicht einmal darüber nachdenken.
    »Dunja«, sagte sie heiser. »Du bist keine Sklavin mehr. Ich gebe dich frei.«
    Frei. Auch sie war jetzt frei. Sie durfte sprechen. Der Mann, der sie zum stummen Knaben gemacht hatte, war tot. Die Lüge ihres eigenen Lebens konnte ihres Vaters Glaubhaftigkeit und seine Zukunft nicht mehr bedrohen. Ezra erschauerte. War durch seinen tödlichen Sturz etwa das Gottesurteil

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