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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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sagte sie:
    – Das hat nichts mit der Arbeit zu tun. Sag mir bloß nicht, dass du zum Arbeiten hier bist, dass du zwei Tage vor Weihnachten einem Verbrecher auf den Fersen bist. Das sind keine Leute auf der Flucht: Das ist eine ganz normale Familie, die im Park ein bisschen frische Luft schnappt. Versuch bloß nicht, mich anzulügen, Raffaele.
    Maione kannte seine Frau. Als Luca noch lebte, hatten sie oft zum Spaß gesagt, dass in Wahrheit Lucia die Polizistin in der Familie sei. Trotzdem versuchte er es mit Ausreden:
    – Was soll das heißen? Wenn du wüsstest, wie viele Leute normal und friedlich wirken und dann unvorstellbare Dinge tun. Die Menschen sind nicht immer so, wie's scheint.
    Ohne Biagios Familie aus dem Blick zu lassen, antwortete Lucia:
    – Unsinn. Gerade hast du dir die Hände vors Gesicht gehalten. Das machst du nur, wenn du durcheinander bist, wenn du nicht weißt, was du tun sollst. Bei der Arbeit bist du dir nie unsicher. Hier gibt's ein anderes Problem, und ich will wissen, welches.
    Maione wusste nicht, was er sagen sollte.
    Lucia fuhr fort:
    – Ich beobachte dich schon seit zwei Tagen. Als du vor drei Tagen abends nach Hause gekommen bist, warst du auf einmal anders. Du bist traurig, zerstreut, nachdenklich. Du versuchst zwar, normal zu wirken, aber ich kenne dich; mir machst du nichts vor. Ich weiß, dass die Arbeit dich beschäftigt, dass du sie auch mal mit nach Hause nimmst, wenn etwas dich nicht loslässt, aber immer in Maßen. Hier geht es um was anderes, und ich will wissen, was.
    Ihr Ton duldete keine Widerrede.
    – Komm, Lucia. Setzen wir uns auf die Bank dort, dann erzähl' ich's dir.
    Ein paar Sonnenstrahlen fanden mühsam ihren Weg durch die schweren dunkeln Wolken und trafen hier und da aufs Meer. Die Bank war eiskalt, doch die Windstille machte das Sitzen erträglich.
    Jetzt um die Mittagszeit wurde der Spazierweg leerer, doch das Orchester spielte heroisch weiter und hielt so die Weihnachtsstimmung hoch wie ein Regiment seine Fahne im Schützengraben.
    – Glaubst du, dass manche Dinge je enden können, Lucia? Glaubst du, dass man seinen Schmerz irgendwann abstellen kann, um weiterzuleben?
    Signora Maione hatte sich kerzengerade hingesetzt, das Gesicht im Pelzkragen verborgen. Der Brigadiere konnte ihren Gesichtsausdruck nicht sehen. Umso besser: So fand er am ehesten die Kraft, ihr alles zu erzählen.
    – Ich glaube, dass Schmerz und Freude ihre Spuren hinterlassen. Und genau damit müssen wir uns auseinandersetzen. Die Schmerzen enden nicht, nein, aber sie verändern dich. Und dem Menschen, der zu dir gehört, schuldest du eine Erklärung. Mir ist das erst nach drei Jahren klargeworden, wie du weißt. Wir haben nie darüber gesprochen: Eines Tages habe ich dich angelächelt und du hast mich umarmt. So viel weiß ich, und so viel möchte ich auch von dir wissen.
    Zwei Möwen schrien gegen den Winter an. Candelas Frau erzählte den Kindern etwas, sie hörten ihr verzückt zu; der junge Mann rauchte und blickte aufs Meer.
    Nur ein paar Meter von ihnen entfernt sahen Lucia und Raffaele zu den vieren herüber und über sie hinweg zum Meer, das von einzelnen Sonnenstrahlen getroffen wurde. Weihnachten lag schwer auf ihnen allen, halb Versprechen und halb Drohung.
    – Raus mit der Sprache. Erzähl mir alles. Ich spüre, dass es etwas ist, das nicht nur dich, sondern uns beide angeht. Wenn es so ist, wie ich glaube, dann musst du mir alles sagen.
    Es war so, Maione wusste das. Sein schlichtes Gemüt sagte ihm, dass er das, was da gerade passierte, mit Lucia teilen sollte, doch zu groß war seine Furcht, das fragile Gleichgewicht, das sie nach Lucas Tod erst vor Kurzem wiedergefunden hatten, zu zerstören.
    Plötzlich wurde ihm klar, dass er die Schwelle in dem Moment überschritten hatte, in dem er erfuhr, dass der so freund
lich und harmlos wirkende blonde Jüngling, der jetzt gar nicht weit weg von ihnen saß, der Mörder seines Sohnes war.
    Maione seufzte. Und begann zu erzählen.
    Während er erzählte, glich seine Stimme dem Rauschen des Meeres am menschenleeren Strand. Seine geflüsterten Worte gruben eine Furche, so tief wie die Hölle. Im Erzählen sprach er auch von sich selbst, ordnete unklare, widerspenstige Gedanken, die zwischen seinem Herzen und seinem Verstand kreisten und ihm keinen Frieden ließen.
    Hundert Jahre schienen vergangen zu sein seit jenem Abend vor drei Tagen, als Franco Massa an der Ecke zur Via Toledo auf ihn gewartet hatte.
    Er erzählte Lucia von

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