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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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der heiseren Stimme eines kinderlosen Vaters mit gebrochenem Herzen und in dessen Worten von einem durch eine schlimme Lüge erzwungenen Geständnis und auch von der furchtbaren Wahrheit, die dadurch ans Licht gekommen war.
    Er erzählte von einem Mann, der vieler Verbrechen schuldig, an einem jedoch unschuldig war, und wie dieser starb in dem Glauben, einem Priester seine Sünden gebeichtet zu haben. Dann sprach er davon, wie der falsche Priester das Todesurteil über einen Mann fällte, der in seinem Leben nur jenes eine Verbrechen begangen hatte. Und wie die Vollstreckung des Urteils in seine, Raffaeles, Hände gelegt worden war.
    Er erzählte von seinem Besuch bei Bambinella, der ihm zwischen Seidengardinen und sterbenden Tauben einen Namen und eine Adresse genannt hatte. Von seinem Weg bis nach San Gregorio Armeno, wo Weihnachten ihm wie eine sinnentleerte, kollektive Aufführung erschienen war, während in seinem Herzen das Lied vom Tod erklang.
    Er erzählte, wie ihm gleichzeitig schlecht und schwindlig wurde, als er bei Tagesanbruch zum ersten Mal die Hand sah, die für sein Unglück verantwortlich war. Wie entsetzt er war, als er merkte, dass Mörder und Opfer sich so sehr ähnelten: die gleiche Haarfarbe, das gleiche Alter.
    Lucia bewegte sich stumm in der Erzählung ihres Mannes, wie in dichtem Nebel. Es war ihr, als höre sie einer Geschichte zu, die nichts mit ihr zu tun hatte, als beobachte sie aus der Ferne Personen und Ereignisse – wie im Kino.
    Maione sah beim Sprechen geradeaus und folgte dem Fluss seiner Gefühle. Er fühlte sich erdrückt, war jedoch dabei, sich zu befreien.
    So erzählte er von der Hand, die immer noch ein Messer hielt, doch diesmal, um damit ein Stück Holz zum Leben zu erwecken, und nicht, um es aus dem Rücken seines Sohnes zu ziehen. Vom Stolz des Ladenbesitzers, vom Lächeln der jungen Frau vom Balkon des gegenüberliegenden Hauses, von der Freude des Mädchens, das seinem Vater um den Hals fiel.
    Er erzählte von dem Überfall, von der spontanen Reaktion des jungen Mannes, von den flüchtenden Dieben. Er konnte ja nicht wissen, dass Lucia der Szene nur ein paar Meter weiter ebenfalls beigewohnt und sich gefragt hatte, warum ihr Mann nicht einschritt.
    An dieser Stelle hielt Maione kurz inne. Doch dann sprach er weiter, mit unveränderter Stimme. Er beschrieb den Sturm, der in seiner Seele tobte, der verzweifelten Seele eines Polizisten, der gerne ein guter Vater sein, den aber die Umstände und Franco Massa zum Richter und Henker machen wollten.
    Er sprach zu Lucia über sie selbst, darüber, wie ihr Schmerz, die Tage des Abgrunds, die sie apathisch im Bett verbracht hat
te, für ihn der wichtigste Ansporn gewesen seien, das Todesurteil zu vollstrecken. Er sagte ihr, wie schwer das Leiden, das sie alle Tag für Tag mit sich schleppten, ohne je darüber zu reden, auf seinen Schultern lastete.
    Schließlich schwieg er. Und in der Stille bemerkten beide, dass sie den Nacken des Mörders ihres Sohnes anstarrten, der seinerseits auf ein paar Sonnenstrahlen im dunklen Meer blickte. Die beiden Möwen kreischten noch einmal und kamen dann zur Ruhe.
    Nun sprach Lucia. Ihre Stimme war trocken und kam aus der Tiefe einer Seele, die nie aufgehört hatte zu sterben. Während er ihr zuhörte, wurde Maione bewusst, wie falsch sein Eindruck gewesen war, sie habe die Kluft überwunden, und dass seine Frau nur gelernt hatte, mit dem Schmerz zu leben, aufgehört hatte, dagegen anzukämpfen.
    – Weißt du, manchmal spüre ich noch, wie er an meiner Brust trinkt. Das ist absurd, nicht? Ich hab' ihn als Mann gekannt, seine riesigen Hemden gebügelt. Er hat mich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt, bis mir die Luft wegblieb, erinnerst du dich? Nach ihm hab' ich noch fünf Kinder bekommen, ich liebe sie alle, du weißt ja, wie sehr. Aber ihn vermisse ich immer noch. Das erste Kind ist etwas ganz Besonderes. Es hat dir gesagt, wer du bist, und was du dein Leben lang bleiben wirst. Eine Mutter. Ganz und gar Mutter.
    Maione kämpfte mit den Tränen. Er nickte, doch seine Frau sah ihn nicht an.
    – Ich habe den einzigen Mann geheiratet, den ich in meinem Leben geliebt habe. Ich hab' ihn geheiratet, weil er mich zum Lachen bringt und mich rührt. Weil er dickköpfig und ehrlich ist, weil er ein Polizist ist. Weil er das Böse bekämpft
und vor allem weil er das Böse erkennt und es meinen Kindern erklärt, damit sie das Gute verstehen. Und den Unterschied, den es dazwischen gibt.
    Maione

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