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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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streicheln ihren Söhnen lächelnd den Kopf, während sie überlegen, ob sie die Kleinen wie im letzten Jahr als Matrosen anziehen oder ob sie schon groß genug sind, um an Heiligabend aufs Familienfoto zu kommen: in Krawatte und Anzugjacke, ordentlich gekämmt und mit ernstem Gesicht.
    Weihnachten ist kalt.
    Ein Mann kehrt mit einem Stück Brot zurück nach Hause. Es ist das Einzige, was er nach einem ganzen Tag Arbeitssuche gefunden hat. Er hat es von einem Karren gestohlen und ist eine Stunde lang gerannt. Sechs Münder warten auf ihn, er selbst hat auch Hunger. Er bleibt stehen, setzt sich auf den Boden und isst ein wenig davon. Tränen laufen ihm die Wangen hinab.
    Weihnachten ist warm.
    Der Großvater wird achtzig, genau an Weihnachten. Während seine Söhne nach dem Essen vor dem Kachelofen ihren Brandy nippen, hören sie der Tanzmusik im Radio zu und denken über ein Geschenk nach. Er besitzt schon alles, was er braucht, denn als erfolgreicher Arzt hat er viel verdient. La
chend beschließen sie, ihm einen neuen Hausmantel zu kaufen, wie letztes Jahr. Doch der Großvater wird überraschend am 23. Dezember sterben und der Morgenrock seine Schachtel nie verlassen.
    Weihnachten ist kalt.
    Unter einem Baustellengerüst beim Hafen liegt eine alte Bettlerin im Sterben. Sie hat das Bewusstsein verloren. Bronchitis, Kälte und Hunger haben am Ende gesiegt. Sie träumt davon, ein Wiegenlied zu singen; sechzehn Kinder hatte sie, die man ihr eins nach dem anderen weggenommen hat, sie weiß nicht einmal, ob sie leben oder tot sind. Aber sie erinnert sich an das Wiegenlied, das sie einmal gesungen hat – für eines ihrer Kinder oder das Kind einer anderen. Sechzehn Kinder hatte sie und stirbt nun allein unter dem Gerüst einer Baustelle. Morgen wird man sie in ihren Lumpen fortschaffen, sie in einen Graben voller Leute wie sie werfen.
    Weihnachten, warm und kalt, verursacht ein Frösteln.

    Ricciardi wartete auf Maione, der ausnahmsweise zu spät war. Zwischen ihnen bestand nämlich die stillschweigende Vereinbarung, dass sie sich während einer laufenden Ermittlung schon sehr früh im Büro des Kommissars trafen, um den Stand der Dinge festzustellen und den Tag rechtzeitig zu planen. Ricciardi sorgte sich allerdings nicht besonders: Maione hatte endlich sein Gleichgewicht wiedergefunden, und ein warmes, behagliches Zuhause bei dieser Kälte früh am Morgen zu verlassen war sicher nicht leicht.
    Der Kommissar hing sehr am Brigadiere. Sein Wohlbefinden lag ihm am Herzen. In den letzten drei Jahren – so lange arbeiteten sie nun schon zusammen – hatte er gelernt, seine
Gefühle und Gedanken zu lesen. Maione war ein aufrichtiger, entschlossener, dickköpfiger Mann. Er scheute die Arbeit nicht und empfand immer noch Mitleid, wenn ihm Schmerz und Leiden begegneten – eine Eigenschaft, die Ricciardi mehr als alles andere schätzte.
    Er konnte sich noch gut an den Nachmittag erinnern, an dem sie zum ersten Mal in engen Kontakt miteinander kamen. Das war, als Maiones Sohn Luca gestorben war.
    Er hatte den Jungen zuvor ein paar Mal gesehen: ein Neuling bei der Polizei, der durch seine Energie und seinen Ehrgeiz hervorstach, blond, blaue Augen, ein stattlicher Bursche. Bei der Beerdigung war ihm aufgefallen, dass er seiner Mutter sehr geglichen hatte.
    Ricciardi war auf den Anruf hin sofort zum Tatort geeilt und dort noch vor Maione eingetroffen, der anderswo im Einsatz war. Er war allein in den Keller gegangen, wo man die Leiche gefunden hatte. Dort sah er Luca neben seinem eigenen am Boden zusammengesunkenen Körper stehen, ganz nah an der Wand, wie um sich zu verstecken. Ricciardi war nun der Einzige, der ihn noch sehen konnte. Aus seinem Mund quoll ein rötlicher Schaum, die Bläschen eines letzten Atemzugs. Der Messerstich in den Rücken hatte die Lunge durchbohrt.
    Ich liebe dich, alter Schmerbauch. Ich liebe dich.
    Nur diese Worte sagte Lucas Abbild. Ricciardi wusste sofort, von wem die Rede war. Als Maione ankam, nahm er ihn zur Seite und wich zum ersten und letzten Mal von einem Grundsatz ab, an den er sich sein ganzes Leben lang gehalten hatte. Er sagte es ihm. Er wiederholte für ihn den letzten Satz des toten Sohnes.
    Der Brigadiere stellte ihm keine Fragen, weder damals noch sonst irgendwann. Aber er wurde sein treuer Begleiter.
    Die Gabe, wie Ricciardi seine Fähigkeit, den letzten Schmerz eines Sterbenden wahrzunehmen, nannte, half fast nie dabei, herauszufinden, wie es zum Tod gekommen war. Es war ein Gefühl,

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