Die Gabe des Commissario Ricciardi
Ausdruck des Mädchens war ernst und reumütig, was nicht ganz zu seinem Alter und dem Farbklecks auf seiner Schürze passte. Ricciardi wartete, bis es sich nach der vorgeschriebenen knienden Begrüßung des Madonnenbildes wieder erhoben hatte.
– Guten Abend, Benedetta. Ich bin … ein Freund deiner Tante und wollte dich etwas fragen.
Die Kleine deutete einen Knicks an, wobei sie sich anmutig den Saum ihrer Schürze hielt.
– Guten Abend, mein Herr. Bitte, fragen Sie ruhig. Meine Tante hat mir aufgetragen, Ihnen auf alles zu antworten.
Ricciardi war erleichtert zu hören, dass die Stimme des Kindes vollkommen normal war und nicht so penetrant wie die seiner Tante.
– Hast du deine Eltern in den letzten Tagen wegen irgendetwas streiten gehört? Waren sie beunruhigt oder aufgeregt?
Das Mädchen dachte aufmerksam nach, dann schüttelte es den Kopf.
– Nein, mein Herr. Papa und Mama geht's gut, danke. Wenn Papa nach Hause kommt, bekommt er von Mama und mir einen Kuss und wir fangen sofort an zu essen. Dann hört er Radio und liest die Zeitung, Mama stickt und ich male, und danach gehen wir schlafen.
Ricciardi pflichtete ihr bei:
– Sicher, sicher. Und erinnerst du dich vielleicht daran, dass jemand zu euch zu Besuch kam? Jemand, der vorher noch nie da war?
Das Mädchen runzelte die Stirn, während es sich zu erin
nern versuchte. Ricciardi fiel das Bild von Signora Costanza Garofalo ein, wie sie ihn mit durchgeschnittener Kehle anlächelte. Es tat ihm leid, dass sie ihre Tochter nicht aufwachsen sehen würde.
– Vor einiger Zeit, ich weiß aber nicht mehr wann, waren ein Mann und eine schwarz gekleidete Frau da. Papa las gerade die Zeitung, wir hatten schon gegessen. Ich mochte sie nicht. Sie redeten laut, auch Papa redete laut. Meine Tante will nicht, dass laut geredet wird. Stimmt's, Tante?
Schwester Veronica nickte und streichelte ihrer Nichte den Kopf. Ricciardi, der sich nebenbei fragte, wie Schwester Veronica mit ihrer Stimme fürs Flüstern eintreten konnte, hielt es für angebracht nachzuhaken:
– Erinnerst du dich an etwas über die beiden? Was hatten sie an, irgendetwas Typisches? Warum mochtest du sie nicht?
Das Mädchen sagte:
– Die Frau trug ein schwarzes Tuch auf dem Kopf. Und ich mochte sie nicht, weil sie stanken. Sie stanken nach Fisch.
XXVII
Es gibt Leute, die ganz anders sind, als man es dem äußeren Anschein nach erwarten würde. So können zarte, schüchterne junge Frauen auf der Bühne eine Stimme und Wildheit entwickeln, die einer Löwin würdig wären, beleibte Herren leichtfüßig zu Walzer- und Tangonoten umherwirbeln, und freche, ungehobelte Flegel erschaffen mit einem Pinsel in der Hand die zierlichsten Schnörkel und hübschesten Landschaften.
Maione zum Beispiel konnte gut beschatten.
Man hätte das nie und nimmer gedacht, da er groß und dick,
plump und laut war, eine tiefe, dröhnende Stimme hatte und ein kräftiges, metallisches Lachen, das klang, als rollte eine leere Dose eine Treppe hinunter. Trotzdem besaß er dieses Talent und nutzte es ausdauernd und diskret.
Vielleicht lag es an seiner Ortskenntnis und seinem Einfühlungsvermögen; vielleicht wäre er anderswo nicht in der Lage gewesen, buchstäblich zu verschwinden und sich in dem bunten Treiben einer Stadt aufzulösen, die sich fortwährend bewegte und veränderte. Doch hier gelang es ihm, und wie.
Natürlich hatte er seine eigene Methode. Er kam früh an, schlenderte ein wenig herum und sah sich um. Auf diese Weise ermittelte er verborgene Winkel, Einbuchtungen, Licht- und Schattenzonen. Er prüfte, aus welcher Richtung Wind und Luftströmungen kamen.
Dann wählte er sein Ziel aus, also das, was er sehen wollte, um sich den besten Blickwinkel für seinen Beobachtungsposten zu suchen. Er sog die Atmosphäre des Ortes in sich auf und verschmolz vollkommen mit seiner Umgebung.
Die Sache ließ sich nicht mit Worten erklären: Es handelte sich fast um so etwas wie Instinkt, ähnlich der Musikalität, die jemanden, der weder lesen noch schreiben kann, dazu befähigt, rein intuitiv eine komplizierte Melodie auf einem Instrument zu spielen, das er noch nie in der Hand gehalten hat. Eine angeborene Begabung, die der Brigadiere noch weiter verfeinert hatte: durch eine professionelle Technik, eine natürliche Beobachtungsgabe und jahrelange Übung.
Daher war er nun imstande, einem Verdächtigen kilometerweit durch die Stadt zu folgen, sogar in fast menschenleeren Gegenden, ohne dass der es auch nur ahnte.
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