Die Gabe des Commissario Ricciardi
blieb er stehen und blickte nach oben. Auf einem kleinen Balkon im ersten Stock zeigte sich eine dunkelhaarige Frau; sie war in eine Decke gehüllt und trug etwas im Arm. Der Mann grüßte winkend, die Frau antwortete mit einem Kopfnicken. Aus dem Bündel schnellte ein Ärmchen hervor und man hörte eine Stimme rufen:
– Papa, Papa!
Die Mutter steckte die Arme des Kleinen lächelnd wieder unter die warme Decke, während der Jüngling auf der Straße lachte und den beiden eine Kusshand zuwarf.
Diese Hand, dachte Maione, hat meinen Sohn getötet.
Rosa Vaglio besah sich ihre linke Hand. Sie zitterte.
Bemerkt hatte sie das vor einiger Zeit, noch gar nicht lange her, vielleicht ein paar Monate. Und sofort war ihr eingefallen, dass ihr Vater dasselbe Problem gehabt hatte. Sie hatte ihre Familie besucht, nachdem sie einige Jahre für den Baron von Malomonte gearbeitet hatte. Erst hatte sie natürlich die Erlaubnis dazu eingeholt; ihr Geburtsort war nämlich einen ganzen Tagesmarsch weit entfernt. Die Baronin wollte, dass der Gutsverwalter sie mit dem Wagen hinbringen sollte, aber Rosa hatte das Angebot nicht angenommen. Damals war sie noch jung. Sie hätte sich zugetraut, zu Fuß bis ans Ende der Welt zu laufen. Heute fiel es ihr schon schwer, zur Piazza di Capodimonte zu gehen, um Obst und Gemüse zu kaufen.
Ihre Familie hatte sich in der Zeit ihrer Abwesenheit sehr verändert. Die Schäden des Alters waren sicher größer als der Nutzen des Geldes, das sie jeden Monat nach Hause schickte. Von elf Geschwistern waren drei übrig geblieben. Die anderen waren ausgezogen, um ihr Glück zu suchen, oder tot.
Ihr Vater hatte dieses Zittern der Hand – als ob er fortwährend Erstaunen ausdrücken wollte. Sein Blick allerdings war verwirrt. Er wirkte wie eine stumme Bitte um Hilfe.
Als sie fortging, fühlte sie sich erleichtert. Sie versprach, bald wiederzukommen, kehrte aber nie mehr zurück. Später erfuhr sie, dass ihr Vater einige Jahre darauf gestorben war.
Und jetzt sah sie dem Zittern ihrer eigenen Hand zu. Es war leicht, kaum wahrzunehmen. Noch glich es dem Zittern des Vaters nicht, so wie sie es in Erinnerung hatte; aber es war da und wurde nach und nach mehr, wie Unkraut.
Es war ein Zeichen wie viele andere: die Rückenschmerzen, die Mühe beim Bücken und Aufrichten, die Notwendigkeit, eine Brille zu tragen, um genauer zu sehen.
Eine alte Frau bin ich geworden, sagte sie sich. Eine unnütze, jämmerliche alte Frau. Mein Körper hört auf zu funktionieren; was ich früher machen konnte, kann ich jetzt nicht mehr.
Ihr Gedächtnis allerdings funktionierte noch gut, und ihre Vorstellungen waren sehr klar.
Eine insbesondere: Der junge Herr musste heiraten. Es ging nicht, dass sie ihn alleine zurückließ, seinen Gespenstern auslieferte, seiner unbegreiflichen Traurigkeit, einer abgrundtiefen Einsamkeit, aus der er anscheinend nicht herauszutreten beabsichtigte. Rosa wusste, dass die richtige Frau ihn glücklich machen würde. Sie fühlte es. Die Geborgenheit einer Familie, die Verantwortung für Frau und Kinder würden genügen, damit Luigi Alfredo sein Leben wieder anpacken würde, seine gesellschaftliche Position pflegen, sein Vermögen verwalten – alles Dinge, für die er bisher keinerlei Interesse gezeigt hatte.
Und sie hatte die richtige Frau bereits ausgemacht, auch wenn das Mädchen leider noch schüchterner und zurückhaltender war als er. Ganz sicher konnte sie das Feld nicht jener affektierten Fremden mit dem Chauffeur überlassen.
Rosa fasste eine Hand mit der anderen, um sie festzuhalten. Noch nicht, dachte sie. Ich habe noch zu tun. Ich muss dem Schicksal nachhelfen: Was nicht von alleine geschieht, muss ich geschehen lassen.
XXVIII
Weihnachten ist warm.
Aus den Fenstern der Häuser in der Via Toledo und in Chiaia dringt Kerzenlicht und Gelächter. Schaut man hinein, erkennt man fröhliche Gesichter und von Sekt und Wein gerötete Wangen, auch wenn es noch ein paar Tage
sind bis Heiligabend. Es herrscht freudige Erwartung, alle sind gespannt. Es wird ein Fest geben, das alle glücklich machen wird.
Weihnachten ist kalt.
Der Wind heult durch die Straßen der neuen Viertel, wo die Leute in den Baracken eng zusammenrücken, um Schutz und Wärme zu finden. Wenn man genau horcht, hört man ein Kind weinen, doch Kälte und Hunger lassen die Klage immer schwächer werden. Es ist nicht sicher, wer von ihnen den Winter überstehen und im Januar noch leben wird.
Weihnachten ist warm.
Mütter
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