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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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ein simpler Ausdruck des Leidens, das Verarbeiten der Loslösung, der Trennung. Wie ein Schrei, ein Seufzer oder ein Bedauern. Oder alles zusammen.
    Maione kam atemlos ins Büro gestürzt.
    – Entschuldigen Sie, Commissario. Ich hab' mich ein bisschen verspätet.
    – Ach was, ich bin auch noch nicht lange da. Setz dich, dann können wir drüber reden, wie der Tag gestern gelaufen ist.
    Sie besprachen die Ergebnisse ihrer jeweiligen sonntäglichen Bemühungen: Ricciardi berichtete, was er vom Doktor und Don Pierino bezüglich Autopsie und Krippensymbolik sowie von der Tochter der Garofalos erfahren hatte.
    Maione hörte aufmerksam zu. Wenn er sich konzentrierte, hatte er die Augen stets halb geschlossen, als ob er gleich einschlafen würde. Als Ricciardi fertig war, sagte er, was Bambinella ihm erzählt hatte.
    – Das würde alles zusammenpassen, Commissario. Die Besucher, die nach Fisch stanken, der zerbrochene heilige Josef, der für den arbeitenden Familienvater steht, die Vermutung, dass Garofalo von zwei Personen erstochen wurde.
    Ricciardi sah nachdenklich aus dem Fenster auf den Platz hinaus, der sich nach und nach mit Menschen füllte. Der Wind rüttelte an der beschlagenen Glasscheibe.
    – Richtig, es würde zusammenpassen. Was aber nicht bedeutet, dass es wirklich so ist. Zunächst mal müssen wir her
ausfinden, was dieser Lomunno macht, der Kerl, dessen Kündigung Garofalo herbeigeführt hat. Und dass ein Ehepaar, das nach Fisch stank, mit Garofalo gestritten hat, bedeutet nicht, dass es ihn und seine Frau später auch tötete.
    Maione stimmte ihm zu.
    – Ja, sicher. Wir müssen natürlich alle Hinweise überprüfen, wie immer. Aber eines steht fest, Commissario, es gibt jetzt mindestens zwei Verdächtige: Lomunno und den Fischer, Aristide Boccia. Vielleicht sogar noch mehr, falls er noch andere Leute erpresst hat. Mit der Ehrbarkeit und Anständigkeit des Verstorbenen scheint's wohl doch nicht so weit her gewesen zu sein.
    Ricciardi schaute immer noch nach draußen.
    – Das Allerschwierigste, Raffaele, ist, hinter das Motiv zu kommen. Was bringt eine oder mehrere Personen, die vielleicht Kinder, Verwandte, Freunde und schwer zu arbeiten haben, dazu zu denken: Ich such' mir jetzt ein scharfes Messer, geh' zu Garofalo und murks' ihn ab, und die Frau gleich mit.
    Maione schwieg mit gesenktem Blick. Ricciardi fuhr fort:
    – Es braucht schon eine ungeheure Wut dazu, glaube ich. Oder große Verzweiflung. In jedem Fall Schmerz und Leid. Um zu beschließen, jemanden kaltblütig zu ermorden, ohne den plötzlichen Gefühlsausbruch eines Streits oder einer Auseinandersetzung, musst du schon sicher sein, dass es keine andere Lösung gibt.
    Maione sah auf.
    – Genauso ist es, Commissario. Eine Sache ist's, jemanden im Affekt zu töten, eine andere, einen Mord erst zu beschließen und dann auszuführen. Dazu muss man echt verzweifelt sein. Und keine Alternative haben.
    Von draußen hörte man ein langes Hupen; irgendetwas behinderte den Verkehr. Ricciardi stand seufzend auf:
    – Lass uns losgehen und dieser Art von Verzweiflung ins Gesicht blicken.

XXIX
    Sie werden kommen, ganz bestimmt sogar. Na und?
    Ich warte schon seit Jahren auf sie, wenn ich's mir recht überlege. Seit damals.
    Damals hätte ich es tun sollen. Dafür sorgen sollen, dass der Tag nicht in Schande für mich endet. Ich hätte ihn aus dem Weg räumen sollen, mitsamt seiner Falschheit, ihm den Hals durchschneiden für seine Niedertracht.
    Sie werden kommen und mich nach dem Grund fragen. Und ich werde ihnen sagen, dass es keinen Unterschied macht, ob man etwas tut oder von ganzem Herzen tun will.
    Wenn es aber keinen Unterschied macht, habe ich es schon hundert Mal getan. Hundert Mal Blut vergossen, es hundert Mal aus den vielen Stichwunden spritzen sehen, hundert Mal zugestochen.
    Sie werden kommen und Fragen stellen. Ich werde ihnen sagen, dass ich mich in Gedanken nie von dem Tag wegbewegt habe, an dem mein Leben zu Staub verfiel. Dass auch ich gestorben bin durch den Tod meiner Liebsten.
    Sie werden kommen und ich werde ihnen verheimlichen müssen, wie oft ich mir gewünscht habe, dass es passiert.
    Durch mich passiert.

XXX
    Enrica musste blinzeln, kaum dass sie aus der Haustür getreten war, denn draußen wehte ein starker, kalter Wind.
    Ihre Brille war beschlagen, sie musste sie ausziehen, um die Gläser abzuwischen. Als sie sie wieder aufsetzte und ihre Umgebung nun klar erkennen konnte, stand direkt vor ihrer Nase Rosa Vaglio, die mit

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