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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Da Maione alle Gassen und Winkel kannte und Abkürzungen nutzte, von denen
die meisten nichts wussten, gelang es ihm sogar, zu Fuß ein Fahrzeug zu verfolgen, ohne den Anschluss zu verlieren. Einmal hatte er, anstatt einem motorisierten Einbrecher nachzujagen, anhand des Akzents des Mannes dessen Ziel erraten und ihn dort frisch und aufgeräumt erwartet.
    Observieren war das Spezialgebiet des Brigadiere. Er nutzte den Schatten eines Hauseingangs, den Trubel in einem Café, die Dunkelheit eines Kinosaals, um darin einzutauchen und in jeder Hinsicht unsichtbar zu werden. Stundenlang konnte er so zusehen, was sich in einem Haus oder Raum abspielte, ja sogar anhand des Mienenspiels der beschatteten Person Rückschlüsse auf deren Gedanken und Gefühle ziehen.
    Zu ebendiesem Zweck hatte er sich an jenem Tag zu sehr früher Stunde im Vico Santi Filippo e Giacomo in der Nähe von San Gregorio Armeno eingefunden.
    Lucia hatte er gesagt, er habe etwas Wichtiges zu erledigen. Seine Frau war schon daran gewöhnt, dass Maione in der heißen Phase einer Ermittlung bisweilen auch vor Tagesanbruch arbeiten musste, und sie wusste von dem ermordeten Ehepaar aus Mergellina. Trotzdem war ihr in Raffaeles Worten eine Spur von Unaufrichtigkeit aufgefallen. Nichts Besonderes eigentlich – ein kurzes Zögern, eine für ihn unübliche Formulierung, aber etwas hatte sie gespürt. Natürlich nichts, was man nicht wie eine lästige Fliege aus seinen Gedanken verscheuchen könnte, bei all den Weihnachtsvorbereitungen für eine siebenköpfige Familie. Schon bald hatte sie nicht mehr daran gedacht und sich darauf beschränkt, ihrem Mann seinen Kaffee eine Stunde früher zu kochen, damit er sich noch im Dunkeln auf den Weg machen konnte.
    In der ganzen Stadt gab es keinen Ort, an dem Weihnach
ten gegenwärtiger war als in San Gregorio Armeno. Es war die Straße der Figurenmacher, jener besonderen Kunsthandwerker, die fast schon Künstler zu nennen waren und die die Tonfiguren für die Krippen herstellten. Jede Arbeitsmethode war dort vertreten. Manche brauchten Monate, um einen einzigen Kopf und zwei Hände herzustellen: Diese würden, an einem Körper aus Draht und Werg befestigt und mit einem von den besten Schneidern genähten Anzug entsprechend gekleidet, die ältesten Krippen vervollständigen, ohne sich vom Original zu unterscheiden. Andere wiederum produzierten mithilfe von Formen Dutzende Tonhirten am Tag, die alle die gleiche Gestalt, aber unterschiedliche, meist hastig aufgetragene Farben hatten, für wenig Geld verkauft wurden und die ärmsten Kinder glücklich machen sollten.
    Die Kunsthandwerker konnten es natürlich nicht wissen und wussten es auch nicht, aber die Tradition der Straße reichte bis in die Antike zurück. Es war der Ort, an dem vor sehr, sehr langer Zeit kleine Tonstatuen zur Verehrung der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres hergestellt wurden, der ein berühmter Tempel gewidmet war. Die Statuen dienten als beliebtes Souvenir einer langen Pilgerreise und traten in den Beuteln der Gläubigen, die in ihre Heimat zurückkehrten, ihren Weg in die ganze Welt an.
    Auf jenem Tempel war vor über tausend Jahren eine Kirche entstanden und danach eine andere Kirche. Neapel war schon immer eine sedimentäre Stadt, die für jede Epoche eine eigene Schicht bereithielt, unter Bewahrung des Genius Loci. Die vorweihnachtliche Betriebsamkeit der Straße kam Maione nun sehr zugute: Noch vor Sonnenaufgang herrschte ein Kommen und Gehen von Arbeitern und Lieferanten, die alle Hände voll
zu tun hatten, und hier und da wartete verstohlen ein Antiquar darauf, dass die besten Läden öffneten, um darin kostbar ausgeführte Stücke zu erwerben, die er in seinem eigenen erlesenen Geschäft in Chiaia als antik weiterverkaufen wollte. Je mehr Trubel herrschte, desto wahrscheinlicher war es, unbemerkt zu bleiben.
    Hausnummern 12, 16, 20. In die Nähe der 22 gelangte er, als sich gerade das Holztor öffnete und jemand heraustrat.
    Maione zog sich rasch und geräuschlos zurück in den Schatten. In der Mauer des Wohnhauses von gegenüber befand sich eine willkommene Einbuchtung. Sie ließ einen dunklen Winkel entstehen, von dem aus es möglich war, die Straße zu beobachten, ohne gesehen zu werden.
    Der Jemand, der aus dem Tor herauskam, war ein junger Mann oder fast noch ein Bub. Unter der tief herabgezogenen Mütze schauten einige helle Haarsträhnen hervor, der kümmerliche Mantel bedeckte kaum seine Beine. Der junge Mann ging ein paar Schritte, dann

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