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Die Gärten des Mondes

Die Gärten des Mondes

Titel: Die Gärten des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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Menschen, die sie getragen hatten, einfach nicht mehr da waren, an sich schon eine Anklage darstellte. Aber es gab noch eine andere Ursache für diese Stille. Die magischen Gewalten, die heute hier entfesselt worden waren, waren groß genug gewesen, um die Trennschicht zwischen den Welten anzugreifen. Was immer auf der anderen Seite, in den Gewirren des Chaos, lebte, glaubte sich nahe genug, um seine Fühler auszustrecken und sie zu berühren.
    Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie zu keinerlei Gefühlen mehr fähig wäre, dass der Schrecken, den sie gerade erst überstanden hatte, alles aufgezehrt hätte, aber als sie jetzt eine Legion Schwarzer Moranth in geschlossener Formation in die Stadt marschieren sah, blitzte kalter Hass in den Augen unter den schweren Lidern auf.
    Verbündete. Sie fordern ihre Stunde des Blutvergießens ein. Nach dieser Stunde würde es in der eroberten Stadt gut zwanzigtausend Überlebende weniger geben. Die beiden benachbarten Völker teilten eine lange, blutige Geschichte, und jetzt würden die Waagschalen der Vergeltung neu ausbalanciert werden. Mit dem Schwert. Bei Shedenuls Gnade, hat es denn nicht schon genug Tote gegeben?
    Ein Dutzend Brände wüteten in der Stadt. Endlich, nach drei langen Jahren, war die Belagerung vorbei. Aber Flickenseel wusste, dass noch mehr kommen würde. Etwas versteckte sich, wartete in der Stille. Also würde sie ebenfalls warten. Das zumindest war sie den Opfern schuldig, die dieser Tag gefordert hatte - schließlich hatte sie in allen anderen wichtigen Belangen versagt.
    Auf der Ebene unter ihr bedeckten die Leichen der malazanischen Soldaten wie ein zerknitterter Teppich aus Toten den Boden. Raben hockten auf Gliedmaßen, die vereinzelt hier und da in die Höhe ragten. Wie betäubt wanderten Soldaten, die das Gemetzel überlebt hatten, zwischen den Leichen herum und suchten nach gefallenen Kameraden. Es schmerzte Flickenseel, ihnen zuzusehen.
    »Sie kommen«, erklang eine Stimme links von ihr, etwa ein Dutzend Fuß entfernt. Langsam drehte sie sich um. Auf einem Haufen verbrannter Rüstungsteile lag Locke, ein Mitglied ihres Kaders; auf seinem kahlrasierten Schädel spiegelte sich der trübe Himmel. Eine magische Woge hatte seinen Körper von den Hüften an abwärts zerschmettert. Die Eingeweide quollen ihm rosa und schlammverspritzt aus dem Bauch, umgeben von einer Art Gespinst aus trocknenden Flüssigkeiten. Ein matter Halbschatten aus Magie zeigte seine Bemühungen, am Leben zu bleiben.
    »Hab dich schon für tot gehalten«, murmelte Flickenseel.
    »Ist wohl mein Glückstag heute.«
    »Sieht aber gar nicht so aus.«
    Locke grunzte, und unterhalb seines Herzens trat ein Schwall dickflüssiges Blut aus. »Sie kommen. Kannst du sie schon sehen?«
    Sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Hang des Hügels zu, kniff die Augen zusammen. Vier Soldaten näherten sich. »Wer ist das?«
    Der Magier antwortete nicht.
    Flickenseel sah zu ihm hinüber und stellte fest, dass er sie anstarrte. In seinem Blick lag jene Art von Aufmerksamkeit, die einem sterbenden Menschen in seinen letzten Augenblicken zu Eigen ist. »Du hast gedacht, du lässt dir einfach eine Woge gegen den Bauch knallen, was? Nun gut, ich nehme an, das ist auch eine Möglichkeit, von hier wegzukommen.«
    Seine Antwort überraschte sie. »Die harte Fassade passt nicht zu dir, Seel. Hat sie noch nie getan.« Er runzelte die Stirn und blinzelte mehrmals; sie vermutete, dass er gegen die Dunkelheit ankämpfte. »Es ist immer ein Risiko, zu viel zu wissen. Sei froh, dass ich dir das erspart habe.« Er lächelte, entblößte blutbefleckte Zähne. »Denk an was Schönes. Das Fleisch ist vergänglich.«
    Sie sah ihn unverwandt an, verblüfft darüber, dass er auf einmal so ... menschlich war. Aber vielleicht wurden im Angesicht des Todes die üblichen Spielchen, all der falsche Schein und das Getue überflüssig. Vielleicht war sie auch nur einfach nicht darauf vorbereitet, dass Locke sich schließlich doch noch als ganz normaler, sterblicher Mann entpuppte. Flickenseel lockerte die Arme, löste die schreckliche, schmerzhafte Umarmung, mit der sie sich selbst umgeben hatte, und seufzte zittrig. »Du hast Recht. Es ist wohl kaum der geeignete Zeitpunkt für Fassaden, was? Ich habe dich nie leiden können, Locke, aber ich habe niemals an deinem Mut gezweifelt - und das werde ich auch nie tun.« Sie musterte ihn kritisch; ein Teil von ihr war erstaunt, dass seine entsetzliche Wunde sie nicht zurückschrecken

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