Die Gärten des Mondes
grausamer Scherz oder das Ergebnis erschreckender Ignoranz gewesen: Das ganze Tal war eine Gletschermulde, ein Haufen Felsen, der eine Gesteinsspalte verstopfte, die so tief hinunterreichte, dass selbst Flickenseels Magier Schwierigkeiten gehabt hatten, ihren Boden zu finden. Elster und seine Leute waren drei Jahre unter der Erde. Wann mögen sie zum letzten Mal die Sonne gesehen haben?
Flickenseel versteifte sich plötzlich. »Sergeant.« Sie öffnete die Augen und sah ihn an. »Wart ihr heute Morgen in euren Tunneln?«
Mit einem schrecklichen Gefühl des Verstehens sah sie einen Ausdruck des Schmerzes über sein Gesicht huschen. »Welche Tunnel?«, fragte er leise und versuchte an ihr vorbeizumarschieren.
Sie streckte den Arm aus und legte ihm eine Hand auf den Unterarm. Er schien zusammenzuzucken. »Elster«, flüsterte sie, »du hast schon so viel erraten. Über ... über mich, über das, was hier auf diesem Hügel geschehen ist, mit all diesen Soldaten.« Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: »Wir haben beide versagt. Es tut mir Leid.«
Er machte sich los, die Augen abgewandt. »Das sollte es nicht, Zauberin.« Jetzt trafen sich ihre Blicke. »Bedauern ist etwas, das wir uns nicht leisten können.«
Sie sah ihm nach, wie er zu seinen Soldaten hinüberging.
Direkt hinter Flickenseel erklang plötzlich die Stimme einer jungen Frau. »Heute Morgen waren wir noch vierzehnhundert, Zauberin.«
Flickenseel drehte sich um. Aus dieser geringen Entfernung konnte sie erkennen, dass das Mädchen unmöglich älter als fünfzehn Jahre sein konnte - abgesehen von ihren Augen. Diese Augen hatten den trüben Glanz von verwittertem Onyx - sie wirkten uralt, als wäre jedes Gefühl längst aus ihnen herausgewaschen worden und in Vergessenheit geraten. »Und jetzt?«
Das Mädchen zuckte beinahe gleichgültig die Achseln. »Dreißig, vielleicht fünfunddreißig. Vier der fünf Tunnel sind vollständig eingestürzt. Wir waren im fünften und haben uns nach draußen gegraben. Fiedler und Igel versuchen, die anderen zu befreien, aber sie glauben, dass alle anderen für immer begraben sind. Sie haben versucht, Hilfe zu holen.« Ein kaltes, wissendes Lächeln glitt über ihr schlammbespritztes Gesicht. »Aber Euer Meister, der Hohemagier, hat sie aufgehalten.«
»Tayschrenn hat was getan? Warum?«
Das Mädchen runzelte die Stirn, als wäre sie enttäuscht; dann stapfte sie einfach zur Hügelkuppe davon, wo sie stehen blieb und wieder zur Stadt hinübersah.
Flickenseel starrte hinter ihr her. Das Mädchen hatte ihr die letzte Bemerkung in einer Art und Weise an den Kopf geworfen, als wäre sie auf eine ganz bestimmte Antwort aus gewesen. Suchte sie das Eingeständnis einer Mitschuld? Wie auch immer, es war ein Fehlschlag gewesen. Tayschrenn schafft sich keine Freunde. Gut. Der Tag war eine Katastrophe gewesen, und die Schuld daran lag voll und ganz beim Hohemagier. Sie starrte hinüber nach Fahl, warf dann einen Blick hinauf zum raucherfüllten Himmel.
Das gewaltige, bedrohliche Gebilde, das sie in den letzten drei Jahren jeden Morgen begrüßt hatte, war tatsächlich verschwunden. Sie hatte immer noch Probleme damit, es zu glauben, ganz egal, was ihre Augen sahen. »Ihr habt uns gewarnt«, flüsterte sie, an den leeren Himmel gewandt, als die Erinnerungen an den Morgen zurückkehrten. »Ihr habt uns wirklich gewarnt, nicht wahr?«
Vor vier Monaten hatte sie angefangen, mit Calot zu schlafen. Eine kleine Ablenkung, um die Langeweile leichter zu ertragen, die von einer Belagerung herrührte, die nicht von der Stelle kam. Zumindest erklärte sie sich so das wenig professionelle Verhalten, das sie beide an den Tag legten. Es war natürlich mehr als das, viel mehr. Doch sich selbst gegenüber ehrlich zu sein hatte noch nie zu Flickenseels Stärken gehört.
Als der magische Ruf kam, weckte er sie noch vor Calot. Der kleine, aber wohlproportionierte Körper des Magiers schmiegte sich eng an ihre weichen Rundungen. Sie öffnete die Augen und sah, dass er sich wie ein Kind an sie klammerte. Dann spürte auch er den Ruf und erwachte.
»Locke?«, fragte er. Er schauderte, als er unter den Decken hervorkroch.
Flickenseel schnitt eine Grimasse. »Wer sonst? Der Mann schläft ja nie.«
»Was mag wohl jetzt wieder los sein?«, fragte er, während er seine Tunika suchte.
Sie betrachtete ihn. Er war so dünn - ganz im Gegensatz zu ihr. Im schwachen Licht der Morgendämmerung, das durch die Zeltwände sickerte, wirkten
Weitere Kostenlose Bücher