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Die Gärten des Mondes

Die Gärten des Mondes

Titel: Die Gärten des Mondes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Erikson
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ein neuer Albtraum beginnen würde.
     
    Unten im Heerlager, gleich hinter der letzten kahlen Hügelkette, wimmelte es in den schmalen Gängen zwischen den Zelten nur so von Pferdefuhrwerken voll verwundeter Soldaten. Die sorgfältige Ordnung des malazanischen Lagers hatte sich aufgelöst, und die fiebrigen Schreie der Verwundeten, die ihren Schmerz und ihr Entsetzen hinausbrüllten, waren allgegenwärtig.
    Flickenseel schlängelte sich zwischen den immer noch benommenen Überlebenden hindurch, stieg mit großen Schritten über Blutlachen in den Wagenspuren; ihr Blick blieb an einem obszönen Haufen amputierter Gliedmaßen vor dem Zelt des Feldschers hängen. Aus dem wirren Durcheinander der Zelte und Notunterkünfte, in denen die Lagerhuren untergebracht waren, die dem Heer folgten, klangen jammernde Klagelieder, ein holpriger Chor aus tausenden von Stimmen; es war ein Geräusch, das einem kalte Schauer den Rücken hinabjagte und daran erinnerte, dass Krieg auch immer etwas mit Kummer und Leid zu tun hatte.
    Dreitausend Längen weit entfernt, im Hauptquartier der Militärs in Unta, der Hauptstadt des Imperiums, würde irgendein namenloser Offizier das Blatt nehmen, auf dem die aktiven Einheiten verzeichnet waren, und die Zweite Armee rot durchstreichen; dann würde er in sauberer Schrift danebenschreiben: Fahl, später Winter im 1163sten Jahr von Brands Schlaf. So würde das Ende von neuntausend Männern und Frauen notiert - und dann vergessen werden.
    Flickenseel verzog das Gesicht. Ein paar von uns werden es aber nicht vergessen. Unter den Brückenverbrennern kursierte ein fürchterlicher Verdacht. Der Gedanke, Tayschrenn in einer direkten Konfrontation herauszufordern, reizte ihren Sinn für Ungeheuerlichkeiten, es wäre - falls der Hohemagier Calot wirklich getötet hatte - die passende Antwort auf das Gefühl, verraten worden zu sein. Doch sie wusste, dass ihre Gefühle manchmal die Tendenz hatten, mit ihr durchzugehen. Ein magisches Duell mit dem Hohemagier des Imperiums würde ihr eine schnelle Reise zum Tor des Vermummten garantieren. Selbstgerechter Zorn hatte für mehr Tote gesorgt, als ein Imperium dies jemals von sich behaupten konnte. Außerdem war es so, wie Calot immer gesagt hatte: Du kannst machen, was du willst -aber tot ist tot.
    Seit sie in das Militär des malazanischen Imperiums eingetreten war, hatte sie viel zu viele Szenen miterlebt, in denen Menschen gestorben waren, doch zumindest hatte sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden können. Das war der Unterschied, und lange Zeit hatte ihr das auch genügt. Ich bin nicht mehr, wie ich einmal gewesen bin. Ich habe zwanzig Jahre damit verbracht, mir das Blut von den Händen zu waschen. Doch jetzt stieg wieder und wieder das Bild der leeren Rüstungen auf der Hügelkuppe vor ihrem geistigen Auge auf, und es machte ihr verdammt zu schaffen. Jene Männer und Frauen waren zu ihr geflohen, hatten Schutz vor dem Entsetzen unten auf der Ebene gesucht. Es war ein Akt der Verzweiflung gewesen - und ein verhängnisvoller dazu -, doch sie konnte es verstehen. Tayschrenn waren die Soldaten gleichgültig, aber ihr nicht. Sie war eine von ihnen. In früheren Schlachten hatten die Soldaten wie tollwütige Hunde gekämpft, um die Feinde daran zu hindern, sie zu töten. Diesmal war es ein Kampf zwischen Magiern. Ihr Gebiet. In der Zweiten Armee wurden Gefälligkeiten ausgetauscht. Das war das System, das alle am Leben erhielt, und es hatte aus der Zweiten eine Legende gemacht. Die Soldaten hatten Erwartungen gehabt, und das mit Recht. Sie waren zu ihr gekommen, um gerettet zu werden - und sie waren dafür gestorben.
    Und wenn ich mich selbst geopfert hätte? Wenn ich den Schutzschild meines Gewirrs schützend um sie gelegt hätte, statt meine eigene Haut zu retten? Sie hatte da draußen auf der Hügelkuppe überlebt, weil sie ihren Instinkten gefolgt war, Instinkten, die nichts mit Selbstaufopferung zu tun hatten. Wer solche Instinkte nicht besaß, überlebte in einem Krieg nicht lange.
    Doch die bloße Tatsache, am Leben zu sein, bedeutete noch längst nicht, sich dabei gut zu fühlen, dachte Flickenseel, während sie sich ihrem Zelt näherte und eintrat. Sie verschloss die Zeltklappe hinter sich und blieb einen Augenblick stehen, um den Blick über ihren weltlichen Besitz schweifen zu lassen. Ziemlich wenig, nach zweihundertneunzehn Lebensjahren. Die Eichentruhe, in der - abgesichert durch Schutzzauber - ihr Buch der Thyr-Magie lag; eine kleine Sammlung

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