Die Gärten des Mondes
Nein, sie wollte Tayschrenn fallen sehen. Sie erschrak, als sie sich über ihre Gedanken und Gefühle klar wurde. Der Durst nach Rache vergiftete die Seele. Und es war überaus wahrscheinlich, dass sie sehr lange würde warten müssen, um Tayschrenns Tod zu erleben. Sie fragte sich, ob sie, wenn sie so lange von jenem Gift trank, am Ende die Welt nicht auch durch Lockes wahnsinnige Augen sehen würde.
»Es ist zu viel«, murmelte sie. »Zu viel auf einmal.«
Ein Geräusch an der Tür ließ sie zusammenzucken. Sie setzte sich auf. »Oh«, sagte sie mit finsterem Blick, »du bist zurück.«
»Und zwar sicher und gesund«, sagte Locke. »Tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen muss, Seel.« Die Marionette wedelte mit der kleinen, behandschuhten Hand, und die Tür schloss sich hinter ihr, der Riegel rastete ein. »Sie sind überaus gefürchtet, diese Schattenhunde«, sagte Locke, während er in die Mitte des Zimmers schlenderte und sich einmal um die eigene Achse drehte, ehe er sich mit weit ausgestreckten Beinen und schlaff herunterbaumelnden Armen hinsetzte. Er kicherte. »Aber letzten Endes sind sie doch nicht mehr als bessere Köter, die an jedem Baum schnüffeln - und keine Chance haben, den schlauen Locke zu finden.«
Flickenseel lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Der Schnelle Ben war nicht gerade begeistert von deiner Schlampigkeit.«
»Dieser Narr!« Locke spuckte das Wort förmlich aus. »Ich lasse ihm seine Beobachtungen, lasse ihm die Überzeugung, dass ihm dieses Wissen Macht über mich gibt, während ich hingehe, wo immer ich hingehen will. Er macht sich wichtig und tut so, als würde er mich beherrschen, und ich lasse ihn noch eine Zeit lang in diesem Glauben, denn meine Rache wird danach umso süßer sein.«
Sie hatte all das schon öfter gehört und wusste, dass er sie bearbeitete, dass er versuchte, ihre Entschlossenheit ins Wanken zu bringen. Unglücklicherweise hatte er zum Teil sogar Erfolg damit, denn sie spürte Zweifel in sich aufsteigen. Vielleicht sagte Locke ja tatsächlich die Wahrheit; vielleicht hatte der Schnelle Ben schon längst die Macht über ihn verloren und es nur noch nicht bemerkt. »Spar dir deine Rachegelüste für den Mann, der dir erst deine Beine und dann deinen Körper gestohlen hat«, sagte Flickenseel trocken. »Tayschrenn verspottet dich noch immer.«
»Er wird als Erster bezahlen!«, kreischte Locke. Dann kauerte er sich zusammen, griff sich in die Seiten. »Immer eins nach dem anderen«, wisperte er.
Vom Hof unterhalb des Fensters drangen die ersten Schreie herauf.
Flickenseel schoss kerzengerade in die Höhe, als Locke schrie: »Sie sind da! Sie dürfen mich nicht entdecken, Seel!«
Die Marionette sprang auf die Beine und huschte zur gegenüberliegenden Wand, wo ihre Schachtel stand. »Vernichte den Hund - du hast keine andere Wahl!« Locke schaffte es, die Schachtel zu öffnen, und kletterte hinein. Der Deckel fiel wieder an seinen Platz, und der Nimbus eines Schutzzaubers umgab die Schachtel.
Flickenseel blieb zögernd am Bett stehen. Von unten klang das Geräusch berstenden Holzes, und das ganze Gebäude erzitterte. Männer schrien. Waffen klirrten. Die Zauberin richtete sich auf; Entsetzen strömte wie geschmolzenes Blei durch ihre Glieder. Einen Schattenhund vernichten? Heftige Schläge erschütterten das Fenster, als ob dort unten Körper beiseite geschleudert wurden, dann erreichten die dumpfen Geräusche den Fuß der Treppe, und die Schreie verstummten. Auf dem Hof hörte sie Soldaten brüllen.
Flickenseel konzentrierte sich auf ihr Thyr-Gewirr. Macht durchströmte sie, fegte die lähmende Furcht beiseite. Alle Erschöpfung war plötzlich verschwunden. Sie reckte sich und richtete den Blick auf die Tür. Holz knirschte, dann barst die Vertäfelung, wie von einem Katapult geschleudert, nach innen, wurde von Flickenseels magischem Schild abgelenkt und brach unter dem doppelten Aufprall auseinander. Ein Schauer aus Scherben und Splittern prasselte gegen die Wände. Hinter ihr zersprang Glas, und die Fensterläden sprangen auf. Ein eisiger Wind wehte in den Raum.
Der Schattenhund tauchte im Türrahmen auf. Seine Augen glichen gelben Flammen, die Muskeln seiner hohen Schultern waren angespannt und zuckten unter der Haut. Die Macht der Kreatur strömte wie eine Woge über Flickenseel hinweg, und sie sog scharf die Luft ein. Der Hund war alt - älter als alles andere, dem sie je zuvor begegnet war. Er blieb witternd im Türrahmen stehen; Blut
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