Die galante Entführung
fesselte. Sie benutzte es als Schild. In Abby stieg der Verdacht auf, daß Lavinias indiskrete Zunge am Werk gewesen war. Als sie gleich darauf ihre Arbeit zusammenfaltete, sagte sie: »Wirst du zum Abendessen heruntenbleiben, Fanny?«
»Oh!« Fanny fuhr leicht zusammen. »Oh, ist es schon Zeit zum Abendessen? – Ja – ich weiß nicht – o ja! Ich bin jetzt nicht mehr krank!«
Abby lächelte sie an. »Natürlich nicht, aber du warst heute zum erstenmal aus, und es würde mich nicht überraschen, wenn Lavinia dir mit ihrem Geplauder Kopfschmerzen bereitet hätte. Ein liebes Mädchen, aber so eine große Plaudertasche!«
Sie war jetzt sicher, daß Lavinia geklatscht hatte. Fanny hob das Kinn, und ihr Blick war gleichzeitig herausfordernd und auf der Hut. »Oh, ich beachte es nicht!« sagte sie mit einem rührenden, wenig überzeugenden Lachen. »Sie ist immer voller Wundergeschichten, aber – aber sehr unterhaltsam!«
Ja, dachte Abby, Lavinia hat ihr die Geschichte von Stacys Niedertracht zugeflüstert, und obwohl sie es nicht glaubt, hat sie Angst, daß es wahr sei.
Es drängte sie, Fanny in die Arme zu nehmen, sie zu hätscheln und zu trösten, wie sie das früher so oft getan hatte, aber ein neues und tieferes Verständnis ließ sie zögern.
»Verzeihung, Miss Abby«, sagte Fardle unheilverkündend von der Tür her. »Ich möchte gern ein Wort mit Ihnen sprechen, wenn es paßt!«
»Aber sicher!« sagte Abby mit einer Leichtigkeit, die zu fühlen sie weit entfernt war. Sie folgte Fardle hinaus und fragte: »Was gibt’s?«
Die ergebene Zofe der ältesten Miss Wendover starrte sie mit einem Blick voll Unheil an und erleichterte sich um eine überraschende Feststellung: »Ich empfinde es als meine Pflicht, Ihnen zu sagen, Miss Abby, daß mir das Aussehen von Miss Selina nicht gefällt – ganz und gar nicht!«
»Oh!« sagte Abby schwach. »Fühlt sie – fühlt sie sich schlecht? Ich gehe zu ihr hinauf.«
»Ja, Miss. Ich war nie eine, die aus einer Mücke einen Elefanten macht, wie man so sagt«, stellte Fardle fälschlich fest, »aber es hat mir einen Riß gegeben, als ich vor nicht einmal zehn Minuten hineinging, um Miss Selina anzukleiden. Es schickt sich nicht für mich, zu sagen, was sie erledigt hat, Miss Abby, und ich hoffe, ich kenne meine Pflicht besser, als Ihnen zu sagen, daß ich glaube, es war Mr. James, der sie so fertiggemacht hat. Alles, was ich weiß, ist, daß sie, kaum daß er das Haus verlassen hat, in ihr Zimmer hinaufgegangen ist und gesagt hat, sie wolle sich hinlegen, was nur zu erwarten war. Aber als ich zu ihr hinaufging, lag sie nicht auf ihrem Bett und war dort auch nicht gelegen, wie Sie selbst sehen werden, Miss. Und kaum ein Wort hat sie gesagt, außer daß sie nicht zum Abendessen hinunterkommen wird und auch kein Tablett hinaufgeschickt haben will. Was ihr nicht ähnlich sieht, Miss Abby, und einen nur fürchten läßt, daß sie einem Kräfteschwund anheimfällt.«
Nach dieser herzerquickenden Vermutung ließ sie Abby in Selinas Zimmer ein.
Abby schloß zwar freundlich, aber energisch die Tür hinter ihr und blickte über das Zimmer hinweg ihre Schwester an, die regungslos neben dem Kamin saß, mit einem Schal um die Schultern und einem Ausdruck im Gesicht, den Abby noch nie an ihr gesehen hatte.
»Selina! Liebste!« sagte sie, ging schnell zu ihr, kniete nieder und nahm Selinas Hände in die ihren.
Selinas Augen wandten sich ihr mit einem niedergeschmetterten Blick zu, der Abby weit mehr als eine Tränenflut erschreckte. »Ich habe nachgedacht«, sagte Selina, »nachgedacht und nachgedacht… Es war meine Schuld. Wenn ich sie nicht zu unserer Gesellschaft eingeladen hätte, dann hätte sie Cornelia nichts derartiges geschrieben.«
»Unsinn, Liebste!« sagte Abby und rieb ihr sanft die Hände. »Du hast mir doch versprochen, daß du kein Wort mehr über dieses Weib sagen wirst!«
Sie hatte gehofft, Selina ein Lächeln zu entlocken, aber nachdem Selina sie verständnislos angesehen hatte, brachte sie heraus: »Es war, weil ich böse war. Das war es, warum du gesagt hast, du würdest ihn heiraten, nicht wahr? Aber ich habe es nicht so gemeint, Abby, ich habe es nicht so gemeint!«
»Dummkopf! Das weiß ich doch!«
Selinas dünne Finger schlossen sich wie Klauen um die ihren. »James hat gesagt – aber ich habe ihm gesagt, so etwas gebe es nicht. Er hat dich völlig aufgebracht, nicht wahr? Ich kann erraten, wie es gewesen sein muß. Ich habe es ihm gesagt. Ich habe
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