Die galante Entführung
Gesellschaftsräume zu erwarten, und wollte ihnen nur eine mündliche Nachricht hinterlassen. Dann aber dachte sie, Selina würde sagen, sie hätte ihnen wenigstens eine Zeile schreiben sollen. Also ging sie in das Schreibzimmer neben der Halle und setzte sich an einen der zwei Schreibtische, um diese Pflicht zu erfüllen. In dem Zimmer war niemand anwesend. Als sie eben ihren kurzen Brief mit einer Oblate, die sie in einer der Tischladen fand, versiegeln wollte, vernahm sie die eine Ankunft begleitenden Geräusche. Sie hielt inne und fragte sich, ob das die Leavenings sein konnten. Es betrat aber nur eine einzelne Person das Hotel, ein Mann, wie sie bemerkte, als sie einen Blick durch den offenen Eingang auf ihn erhaschte. Sie befestigte die Oblate und schrieb die Adresse auf das Billet, als sie aus dem Augenwinkel sah, daß er in das Schreibzimmer geschlendert war. Sie beachtete ihn nicht, schrak aber im nächsten Augenblick zusammen, als jemand in der Halle dem Hausdiener befahl, Mr. Calverleighs Reisegepäck in Nr. 14 hinaufzubringen.
Derart überrumpelt, brauchte sie eine Weile, bis sie imstande war zu entscheiden, ob sie sich ihm bekanntmachen oder eine förmliche Vorstellung abwarten sollte. Der strenge Anstand, in dem sie erzogen war, drängte sie, den letzteren Weg einzuschlagen. Dann jedoch überlegte sie, daß sie ja schließlich kein junges Mädchen mehr sei, sondern eine Tante und eine Art Vormund. Noch dazu war sie in genügend vorgerückten Jahren, um einen fremden Herrn ansprechen zu können, ohne Gefahr zu laufen, für entsetzlich dreist gehalten zu werden. Sie hatte sich schon gefragt, wie sie es zustande bringen konnte, ohne Fannys Wissen privat mit Mr. Calverleigh zu sprechen, und hier nun bot sich ihr dank einem wahren Glücksfall die Gelegenheit. Vor einer sicherlich äußerst unangenehmen Unterredung zurückzuscheuen, wäre, sagte sie sich, hasenherzig. Sie wappnete sich also entschlossen, stand vom Schreibtisch auf, drehte sich um und sagte in einem kühl liebenswürdigen Ton: »Mr. Calverleigh?«
Er hatte eine Zeitung von dem Tisch in der Mitte des Zimmers aufgenommen und sah sie flüchtig durch. Nun senkte er die Zeitung und blickte über sie hinweg Abby fragend an. Seine tiefliegenden Augen waren von einem hellen Grau, das durch seine tiefdunkle Gesichtsfarbe noch auffallender wirkte. Er sah leicht überrascht aus und sagte: »Ja?«
Wenn schon er überrascht war, so war Abby völlig verblüfft. Sie hatte sich kein sehr genaues Bild von ihm gemacht, aber nichts, das man ihr erzählt hatte, hätte sie erwarten lassen, daß sie nun vor einem großen Mann mit lockeren Gliedern stehen würde, beträchtlich älter als sie, mit herben Zügen in einem tiefgefurchten Gesicht, einer bedauerlich fahlen Haut und nicht dem geringsten Anhauch des Modischen. Er trug zur Wildlederhose und Reitstiefeln eine Jacke, die zu locker um seine sehr breiten Schultern saß, um schick zu sein, sein Halstuch war fast nachlässig geknüpft, an der Taille baumelten keine Anhänger und Siegel, und die Höhe seiner Kragenspitzen war nicht nur äußerst gemäßigt, sondern sie waren sogar zu wenig gestärkt.
Abby war so erstaunt, daß sie ihn eine ganze Minute lang nur anstarren konnte, so sehr wirbelte ihr der Kopf. Er war ihr als ein junger, schöner Großstadtmensch beschrieben worden, und dieser Mann hier war nichts dergleichen. Ihr Schwager hatte ihn ihr gegenüber als einen lockeren Vogel bezeichnet; das allerdings vermochte sie bereitwilliger zu glauben. Er hatte eine Spur Verwegenheit an sich, und die tief eingegrabenen Linien in seinem mageren Gesicht konnten durchaus (nahm sie an) auf Ausschweifungen hindeuten. Sie war aber nicht imstande, sich vorzustellen, was an ihm Fanny – und auch Selina – gefesselt haben konnte. Als sie ihn jedoch immer weiter anstarrte, merkte sie, daß sich ein amüsierter Ausdruck in sein Gesicht geschlichen hatte und ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. Plötzlich begriff sie sehr gut, wieso sich Fanny von ihm hatte faszinieren lassen. Gerade als ihr ein antwortendes Lächeln entlockt wurde, kam ihr zu Bewußtsein, daß Selina selbst in ihren dümmsten Augenblicken wohl kaum je von einem Mann ihres eigenen Alters als einem jungen Mann von sehr netten Manieren gesprochen hätte, und sie rief mit dem Ungestüm aus, der so häufig von den älteren Familienmitgliedern an ihr beklagt wurde: »Oh, ich bitte um Entschuldigung! Ich habe Sie irrtümlich – ich meine – ich meine
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