Die galante Entführung
studieren zu lassen. Man nahm allgemein an, daß Oliver Grayshott sein Erbe werden sollte. Obwohl es Leute gab, die es für wirklich arg von Mr. Balking hielten, daß er den einzigen übriggebliebenen Sohn seiner armen Schwester nach Indien gesandt hatte, stimmte man doch fast einhellig darin überein, daß Mrs. Grayshott sträflich im Unrecht gewesen wäre, wenn sie sich geweigert hätte, sich von ihm trennen zu lassen.
Das also hatte sie nicht getan, und jetzt kehrte er – wie einige Leute es ja von Anfang an vorausgesehen hatten –, wenn nicht an der Schwelle des Todes, so doch im besten Fall im Zustand eines völligen Zusammenbruchs zu ihr zurück.
Abby, mit einem heiteren Gemüt gesegnet, betrachtete Olivers Fall optimistischer. Sie erkannte jedoch, wie sehr Mrs. Grayshott Angst empfinden mußte, und neigte zu der Ansicht, daß deren verständliche nervöse Erregung sie recht gut dazu verführt haben konnte, Fannys Verliebtheit allzu übertrieben zu sehen.
Die folgenden drei Tage trugen nichts dazu bei, eine solch beruhigende Vorstellung zu fördern. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß sich Fanny, geblendet von den Aufmerksamkeiten eines Londoner Stutzers, kopfüber in ihre erste Liebe gestürzt hatte und für jegliche zügellose Torheit reif war. In der Kunst der Verstellung völlig ungeübt, verriet sich in ihren krampfhaften Versuchen, sorglos zu erscheinen, ihre Jugend. Unter anderen Umständen hätte das Abby amüsiert. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie viel mehr fand, was sie eher bestürzen als unterhalten mußte. Sie war selbst impulsiv, oft Konventionen gegenüber ungeduldig, und in ihrer Mädchenzeit rebellisch gewesen, war aber viel strenger erzogen worden als Fanny. Es versetzte ihr einen unangenehmen Schlag, als sie entdeckte, daß Fanny täglich nach dem Postboten ausspähte und beim ersten Aufblitzen seines Scharlachrocks und Kokardenhuts aus dem Zimmer schlüpfte, um die Briefzustellung abzufangen. Selbst wenn Abby noch so rebellisch gewesen war, hatte sie nie im Traum daran gedacht, sich auf einen heimlichen Briefwechsel einzulassen! Wenn ein solches Benehmen bekannt wurde, hätte es Fanny unter jede Kritik sinken lassen. Es verletzte alles Gefühl; und wäre Abby durch Fannys Niedergeschlagenheit nicht ziemlich sicher gewesen, daß sie kein Brief von Mr. Calverleigh erreicht hatte, dann hätte sie alle Vorsicht fahren lassen und das Mädchen unumwunden zur Rede gestellt. Zunächst war sie geneigt, Mr. Calverleigh Anstand zuzutrauen, nach einigem Nachdenken kam sie jedoch zu der Erkenntnis, daß er, falls tatsächlich Heirat sein Ziel war, wohl kaum eine solche Torheit begangen hätte, Fanny Briefe zu schreiben, die höchstwahrscheinlich in die Hände ihrer Tanten gelangen mußten. Sein Ziel mußte es sein, Fannys Hüterinnen günstig zu stimmen; und in seiner Behandlung Selinas hatte er gezeigt, daß er das wußte. Abby war der Meinung, daß ihm das nur zu gut gelungen sei. Selina war sehr entsetzt über die ihr gemachten Enthüllungen, hoffte aber etwas nebulös, daß sie sich vielleicht trotz allem irgendwie als unwahr herausstellen würden. Sie war Abbys Meinung nach zu übermäßiger Empfindsamkeit gerührt von dem Anblick ihrer Nichte, die jedesmal, wenn ein Fahrzeug vorfuhr, eifrig zum Fenster lief. »Armes, armes Kind!« trauerte sie. »Es ist so ergreifend! Ich verstehe nicht, wie du ungerührt bleiben kannst! Ich hätte dich nicht für so – so gefühllos gehalten, Abby!«
»Ich bin nicht ungerührt«, antwortete Abby böse. »Ich bin zutiefst gerührt – von dem starken Wunsch, Fanny die schönste Strafpredigt ihres Lebens zu verpassen. Und ich täte es auch, wenn ich nicht Angst hätte, daß es sie nur in dem Glauben bestärken würde, sie sei eine verfolgte Heldin.«
In dem edlen Entschluß, sich dieses Wunsches zu enthalten, wurde sie bestärkt durch die Aufnahme des einzigen Rates, den sie sich dem vom Geliebten verlassenen Dämchen zu geben erlaubte: es solle sein Herz nicht auf der Zunge tragen. Mit trotzig erhobenem Kinn, blitzenden Augen und blutroten Wangen verkündete Fanny: »Ich schäme mich nicht, Stacy zu lieben! Warum soll ich mich verstellen?«
Abby lagen einige recht bissige Erwiderungen auf der Zunge, und es sprach sehr für ihre Selbstbeherrschung, daß sie keine äußerte. Fanny hatte bereits instinktiv vermutet, daß ihre Lieblingstante in den Reihen der Feinde Stacy Calverleighs stand. Sie ging etwas in Verteidigungsstellung, war zwar noch nicht
Weitere Kostenlose Bücher