Die galante Entführung
Denn das habe ich, wie du hoffentlich weißt, niemals beabsichtigt.«
»Ich weiß, Ma’am. Bitte, denken Sie das nicht. Früher oder später hätte ich ihn ja doch kennenlernen müssen.«
»Und du magst ihn? Ich fürchtete schon, daß dich seine legeren Manieren vielleicht beleidigen.«
»Im Gegenteil, sie amüsieren mich. Er ist sicherlich ein Original!«
Mrs. Grayshott lächelte, sagte jedoch gefühlvoll: »Wahrhaftig, das ist er! Aber nicht nur das. Er ist so überaus gütig. Er schätzt den Dienst, den er Oliver auf der ganzen ermüdenden Reise geleistet hat, gering ein, aber ich habe die Wahrheit von Oliver persönlich gehört. Wäre nicht Mr. Calverleighs unermüdliche Pflege gewesen, ich glaube nicht, daß mein armer Junge die Fahrt überlebt hätte. Er erzählte mir, daß er zwei Tage, nachdem man ihn an Bord getragen hatte, einen Rückfall des gräßlichen Fiebers erlitt. Es war eher Mr. Calverleigh als der Schiffsarzt, der ihm das Leben gerettet hat, denn durch seinen langen Aufenthalt in Indien hat er dieses Leiden viel besser als der Schiffsarzt kennengelernt. Ich muß ihm ewig dankbar sein.« Ihre Stimme zitterte. Sie beherrschte den kleinen Gefühlsausbruch und bemühte sich, lebhafter zu sprechen: »Und als hätte er nicht schon genug für mich getan, besorgte er noch Karten für dieses Konzert heute abend und tyrannisierte mich geradezu, daß ich ihn begleite! Etwas, das ich gesagt habe, muß ihn auf den Gedanken gebracht haben, daß ich die Neroli sehr gern gehört hätte. Es ist besonders gütig von ihm, daß er mir die Gelegenheit dazu geboten hat, denn ich fürchte, er selbst liebt Musik nicht sehr.«
Da Abby sehr guten Grund hatte, anzunehmen, daß Mr. Calverleighs Güte reinem Egoismus entsprang, fiel es ihr sehr schwer, den Mund zu halten. Vielleicht war es ein Glück, daß er soeben zu ihnen zurückkam und damit jeder weiteren Erörterung seines Charakters ein Ende setzte. Sie nahm den Tee von ihm entgegen, mit einem Dankeswort und einem bezaubernden Lächeln, konnte jedoch dem Impuls nicht widerstehen, ihn zu fragen, ob er von der Stimme der Neroli nicht hingerissen sei.
Prompt erwiderte er: »Nicht ganz. Ein bißchen zuviel vibrato, meinen Sie nicht auch?«
»Ah, ich merke, Sie sind ein Fachmann!« sagte Abby und beherrschte eine zitternde Lippe. »Sie müssen mich in meiner Unkenntnis aufklären, Sir. Was bedeutet das, bitte?«
»Nun, mein Latein ist ziemlich eingerostet, aber ich glaube, es bedeutet zittern«, sagte er kühl. »Und das tut sie auch, wie ein Pudding. Und hat auch so ziemlich die gleiche Figur wie einer«, fügte er nachdenklich hinzu. »Oh, Sie gräßliches Geschöpf!« protestierte Mrs. Grayshott und brach in Gelächter aus. »Das habe ich nicht gemeint, als ich sagte, meiner Meinung nach hätte sie zuviel vibrato ! Das wissen Sie doch!«
»Ich glaube, sie hat von allem zuviel«, sagte er freimütig.
Mrs. Grayshott entrüstete sich über ihn, Abby jedoch, die eben ihren Tee schlürfte, verschluckte sich.
Als er sie gleich darauf zu ihrer eigenen Gesellschaft zurückbrachte, war sie der Notwendigkeit enthoben, ihn Mrs. Faversham vorzustellen, ja ihn diese Dame beim Namen und mit einem gnädigen Lächeln begrüßte. Lady Weaversham hatte ihm diesen Dienst bereits am Morgen in der Trinkhalle geleistet.
Als sich Mr. Faversham neben Abby niederließ, sagte er: »Das also ist der Onkel des jungen Calverleigh!« Er sah der hohen Gestalt Mr. Calverleighs nach. »Sieht zwar so aus, als ob ihm jeder Mensch egal wäre, aber er gefällt mir besser als sein Neffe. Bei weitem zu aufdringlich, dieser junge Mann!«
»Sie mögen ihn nicht, Sir?«
»Nein, ich kann nicht sagen, daß ich es täte«, erwiderte er rundheraus. »Tatsache ist, daß ich nichts von diesen jungen Modejünglingen halte. Meine Frau nennt mich einen altmodischen Kauz. Das tun bestimmt auch Sie, denn alle Damen scheinen seinethalben den Kopf verloren zu haben. Sie haben ihn noch nicht kennengelernt, wie?«
»Nein, dieses Vergnügen ist mir noch nicht vergönnt worden«, sagte Abby trocken.
Es sollte ihr am nächsten Tag vergönnt werden. Mr. Stacy Calverleigh kam vormittags mit der Postkutsche von London im Weißen Hirschen an und hielt sich nur so lange dort auf, bis er seinen Reiseanzug gegen die schwarze Jacke aus superfeinem Stoff, die blasse Kniehose und die glänzenden Hessenstiefel des Bond-Street-Stutzers ausgetauscht hatte, dann begab er sich in einer Mietdroschke zum Sydney Place.
Die Damen
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