Die Galerie der Lügen
gewaltigen Graben auf?«
»Sakaki, der Leiter der Forschergruppe, geht sogar noch weiter. Er hat die Differenzen auf sämtliche Chromosomen hochgerechnet und kam zu dem Urteil, dass wohl nur siebzehn Prozent der Gene von Mensch und Schimpanse identisch sind. Wie groß der Unterschied der Genome auch immer sein mag, kann man wohl kaum leugnen, dass sich zwischen dem Schimpansen und dem Menschen eine riesige Kluft auftut.«
»Nichtsdestotrotz gibt es aber auch eine Menge Übereinstimmungen im Erbgut.«
»Zweifellos. Aber die lassen sich durchaus auch im Sinne der Schöpfungswissenschaft deuten: Wieso soll ein intelligenter Konstrukteur nicht ähnliche Bausteine verwenden, um ähnliche Funktionen in einem ähnlichen Lebensraum zu verwirklichen?«
»Aber es gibt doch – selbst wenn man die Australo-…«
»… -pithecinen?«
»Richtig. Selbst wenn man die außer Acht lässt, kann unsere Ahnenreihe doch durch genügend andere Funde belegt werden.«
»Dieser Anschein wird oft erweckt. Im Vergleich zu den etwa zweihundertfünfzigtausend fossilen Arten, die man durch Millionen von Einzelfunden belegen kann, sind die bekannten Versteinerungen von Hominiden aber beklagenswert rar. Und in den meisten Fällen, wenn nicht sogar in allen, ist die Bewertung ihrer anatomischen Merkmale subjektiv.«
»Weil die Lücken zu groß sind?«
»Weil in der Regel mehrere Deutungen möglich sind. Wen wundert es da, dass man sich mit schöner Regelmäßigkeit jene herauspickt, die der Vorstellung von unseren auf Bäumen herumkletternden Urahnen am nächsten kommen?«
»Knochen sind Knochen. Die kann man nicht einfach wegdiskutieren.«
»Wenn du dich da mal nicht irrst! Sagt dir der Name Ramapi thecus brevirostris etwas?«
»Nicht wirklich.«
»Er bedeutet in etwa › Kurzschnäbliger Affe des Rama ‹ . Man hatte nur einige Bruchstücke von ihm gefunden. Die von seinem Oberkiefer weckten besonders die Aufmerksamkeit der Paläontologen. Sie stellten ihn Anfang der Sechzigerjahre in die direkte Vorfahrenreihe des Menschen, und bald begann sein Siegeszug als › ältester Hominide ‹ . Mit dem Homo sapiens habe er seine › Kurzschnäuzigkeit ‹ , die kleinen Eckzähne, den dicken Zahnschmelz und einige andere Merkmale gemein, erklärten die Forscher. Sie hatten die beiden Hälften des Kiefers parabolisch angeordnet, also eher wie ein V als wie ein U geformt, weil unser Vorfahr uns ja ähnlich sehen musste.«
»Ist das Schadenfreude, die ich da in deinen Augen blitzen sehe?«, fragte Darwin, während er abwesend sein Essen in sich hineinstopfte.
»Sagen wir Genugtuung. Es kamen weitere Fossilfunde hinzu und damit auch die Erkenntnisse, nach denen sich weder das Alter noch die Anatomie des Ramapithecus in die idealistischen Vorstellungen fügten. Man war gezwungen, umzudenken. Der Kiefer wurde jetzt mit eher parallelen Zahnreihen rekonstruiert, die angeblich menschlichen Eckzähne entpuppten sich als die kleineren Exemplare der Weibchen und und und. Manche Merkmale wurden umgedeutet, andere › verschwanden ‹ einfach. Roger Lewin – er hat lange hier in London für den New Scientist geschrieben – meinte dazu lapidar, sie existierten wohl mehr in den Gedanken der Beobachter als in den beobachteten Fossilien.«
»Na ja, man hat sich eben geirrt. Solange die Wissenschaftler ihre Fehler einräumen, spricht das doch für sie, oder etwa nicht? «
»Ich habe nichts gegen Wissenschaftler, Darwin. Mich stört nur, wenn ihre theoriegeleiteten Deutungen andere, vielleicht bessere Alternativen verdrängen und mit solcher Gewalt in die Köpfe der Menschen gehämmert werden, dass sie kaum noch herauszubekommen sind. Höre dich doch mal um. Du wirst immer noch allzu oft vom Ramapithecus als einen unserer Vorfahren hören und viel zu selten von einem Affen, dessen flaches Gesicht nicht menschenähnlich ist, sondern schlicht und ergreifend dem eines Orang-Utan gleicht.«
»Kann ja sein. Du solltest dich nicht an einem verunglückten Beispiel festklammern. Es gibt andere. Bessere! Nimm den Neandertaler…«
»Homo neanderthalensis.« Alex nippte an ihrem Rotwein und nickte lächelnd. »Der Superstar der Hominiden?«
»Das klingt so nach Jesus Christ Superstar.«
Der Vergleich sei gar nicht schlecht, erklärte Alex. Andrew Lloyd Webber habe ja auch ein Bild von Jesus gezeichnet, das die Wahrheitsfindung zu Gunsten von Showeffekten opfere. Bei dem vor etwa einhundertsechzig Jahren erstmals entdeckten Neandertaler war es ähnlich. 1908
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