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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wurde dann im französischen La Chapelle-aux-Saints ein vergleichsweise vollständiges Skelett gefunden. Daraufhin machte sich Marcellin Boule, Professor am Museum für Naturgeschichte in Paris, daran, das von Arthritis deformierte Gerippe der Öffentlichkeit als einen primitiven Rohling aus der Werkstatt der Evolution zu präsentieren, bei dessen Betrachtung man eher an einen Affen denn an einen Menschen denkt.
    Die Bilder von einem brutal aussehenden, behaarten Wesen, das sich vornübergebeugt fortbewegt und sich animalischer Verhaltensweisen befleißigt, hätten sich ein halbes Jahrhundert lang gehalten, sagte Alex in wenig mitfühlendem Ton. Ins Gedächtnis vieler Laien habe sich die von Boule etablierte Vorstellung vom Affenmenschen bis auf den heutigen Tag fest eingebrannt. Aber die Fakten sähen anders aus.
    Heute gebe es kaum Hinweise für eine Anatomie und ein Verhaltensrepertoire, die »primitiver« seien als beim modernen Menschen. Der Neandertaler verfügte über die gleichen Möglichkeiten zur Artikulation wie der heutige Mensch. Offenbar stellte er sogar Schmuck und Musikinstrumente her, wie neuere Funde aus Slowenien zu belegen scheinen.
    Ein Merkmal, das Boule wegen seiner Voreingenommenheit völlig außer Acht ließ, war das enorme Gehirnvolumen des in La Chapelle-aux-Saints gefundenen Neandertalers. Es lag bei über eintausendsechshundert Kubikzentimeter. In diesem Punkt war er dem durchschnittlichen Jetztmenschen mindestens ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Seine Robustheit und sein großes Gehirn werden heute eher mit einem kalten Lebensraum in Verbindung gebracht – ganz ähnliche Körpermerkmale findet man immer noch bei Eskimos und Lappländern.
    »Der Neandertaler ist ein weiteres schönes Beispiel für die Kluft zwischen Erwartung und Realität«, schloss Alex ihren Ausflug in die Paläoanthropologie. »Wir könnten stundenlang weitere aufzählen und kämen doch immer zu demselben Ergebnis: Man kann aus dem Fossilbericht, wenn man ihn gefiltert durch die darwinistische Brille betrachtet, einen Stammbaum des Menschen erfinden. Allerdings häuft man damit eine Menge von Problemen und Widersprüchen auf. Jeder neue Fund, der in den letzten Jahren gemacht wurde, scheint die Stammbaumkonstruktion eher zu komplizieren – aus einem Stammbaum ist längst ein Stammbusch gewachsen, dessen Dickicht zunehmend undurchdringlich wird. Je mehr Zweige bekannt werden, desto weniger erkennt man die Verzweigungspunkte.«
    Alex’ Röstkürbis war inzwischen fast kalt, aber sie schob sich trotzdem eine Gabel voll in den Mund.
    Darwin hob wie zur Kapitulation beide Hände. »Okay, okay. Du hast gewonnen. Das Thema Menschwerdung ist zweifellos wichtig und nach Ansicht unseres terroristischen Langfingers offenbar auch mit zahlreichen Lügen behaftet…«
    »Nicht nur die Erklärungen zur Entstehung des Menschen will er verurteilen«, fiel Alex ihm mit vollem Mund ins Wort und schlang den Inhalt desselben mithilfe eines Schlucks Wein hinunter. »Ich sehe in der Auswahl des Gemäldes von Piero di Cosimo vor allem einen Angriff auf die Ambitionen, das quasi zufällige Werk der Evolution im Sinne eines Prometheus durch gezielte Eingriffe des Menschen zu vervollkommnen. Denke an die jüngste Diskussion um die neuen Gesetze zur humangenetischen Forschung und Anwendung.«
    »Meinetwegen. Die Botschaft ist angekommen. Fragt sich nur, was wir daraus machen. Wie kann ich Raub Nummer sechs verhindern?«
    »Wir kennen jetzt die Richtung, in die er uns lenken will.«
    »Na wie schön.«
    »Hast du die Wunschliste dabei, in der ich mir letzte Woche ein paar Kunstwerke auswählen durfte?«
    Darwin grinste freudlos. »Ein paar? Es waren neunundsiebzig.«
    »Jetzt sind es nur noch achtundsiebzig.«
    »Ich wage zu bezweifeln, ob das die Laune meines Bosses heben kann. Vor allem, wenn es bald nur noch siebenundsiebzig sind.« Darwin reichte Alex den mehrseitigen Computerausdruck.
    Sie durchforstete nachdenklich die Namen der Gemälde und Plastiken. Ohne von dem Papier aufzublicken, fragte sie: »Da wir gerade davon sprechen, woraus bestand eigentlich der Spiegel, den man in den Sachen des Einbrechers gefunden hat?«
    Der Detektiv zuckte mit den Schultern. »Woraus schon? Aus Glas.«
    Alex verdrehte die Augen. »Ich meine das Drumherum. Den Rahmen.«
    »Ach so! Aus Holz, wenn ich mich richtig erinnere.«
    »Lässt sich das feststellen?«
    Darwin holte die Akte hervor, in der er sämtliche Notizen zum Fall sammelte. N ach

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