Die Galerie der Lügen
männ lichen ‹ Drang nach Dominanz durch die Verwirklichung eigener Ideen repräsentieren. Oder wie du es gesagt hast: Der Mensch soll tun, wozu immer er imstande ist.«
»Männliche Dominanz?«, fragte Darwin skeptisch.
»Ich gebe zu, das ist ein Klischee. Aber die entstehen nicht ohne Grund, oder?«
Er grinste.
Alex konnte ihre Gedanken mit einem Mal nicht mehr zurückhalten. »Machbarkeitswahn…«, murmelte sie. »Das Überschätzen der eigenen Möglichkeiten… Ton? Seit Jahrtausenden werden Bauwerke aus Tonziegeln errichtet! Der Hut ragt auf wie… wie… Fällt dir irgendein Symbol für menschliche Schöpferkraft und menschlichen Hochmut ein, der sich gewaltige und alles Maß übersteigende Aufgaben stellt?«
Für einen kurzen Moment schienen sich ihre Blicke über dem Tisch wie die Kabel eines Taus umeinander zu verschlingen, dann senkten sie sich gleichzeitig in die Liste der bei ArtCare versicherten Kunstwerke. Gemeinsam durchforsteten sie die Markierungen, bis Darwin den Finger auf einen ganz bestimmten Eintrag legte.
»Der Bau des Turms von Babel!«, flüsterte er. »Von Hendrick van Cleef.«
Sie sah ihn lächelnd an. »Ein Turm, der bis an den Himmel reichen sollte. Sein Zweck war es, die Menschen an einem Ort zu binden, anstatt dem Gebot des Allmächtigen zu gehorchen und sich über die ganze Erde zu verbreiten. Gott strafte die Bauleute mit der Sprachverwirrung; sie zogen von dem Ort fort und erfüllten dadurch am Ende doch den himmlischen Plan. Wenn du mich fragst, wird das › Gehirn ‹ nächsten Sonntag dieses Gemälde zu stehlen versuchen.«
Darwin blickte auf seine Uhr. »Hast du was dagegen, wenn wir auf das Dessert verzichten?«
Der Rover hielt mit leisem Quietschen der Bremsen vor dem Haus in der Copperfield Street. Darwin hatte eines der firmeneigenen Poolcars ausgeliehen, um Alex’ persönliche Habseligkeiten vom ArtCare-Verwaltungsgebäude nach Southwark zu transportieren. Lucy war noch nicht zu Hause. Nachdem die Polizei sie am Nachmittag im Buchladen besucht hatte, um das Alibi ihrer neuen Mitbewohnerin zu überprüfen, war ihr offenbar nach einem Abend unter Kollegen im Pub gewesen. »Du wirst sowieso einen Haufen mit meinem Bruderherz zu besprechen haben«, lautete ihre Erklärung in dem Telefonat, das sie mit Alex kurz vor deren Aufbruch ins Bankside geführt hatte.
Darwin trug die beiden Umzugskartons nacheinander ins Gästezimmer, in den ersten Stock des Reihenhauses hinauf. Als er den zweiten Behälter neben den ersten stellte, bog sich der Pappdeckel auf, und sein Blick fiel ins Innere der Kiste. Nachdem er sie schon wieder halb zugeklappt hatte, zögerte er plötzlich. Langsam öffnete er abermals den Deckel und starrte wie gebannt in den Karton.
»Was ist?«, fragte Alex. Sie stand an der Tür und konnte nicht sehen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.
Er deutete in die Kiste. »Darf ich?«
Sie ging zu ihm, ihr Blick folgte dem seinen. Auf einem Stapel von Papieren lag zuoberst eine Gruppenaufnahme von einer Anglergesellschaft, die ihren bescheidenen Fang dem Fotografen präsentierte. Es handelte sich um ebenjenes Bild, dessen Rahmen Alex beim Anruf ihrer Freundin aus der Hand gerutscht und am Boden des Schlafzimmers zerbrochen war. Der Wind musste es in einen geschützten Winkel des Raumes geweht haben, wo es das Feuer halbwegs überstanden hatte. Die rechte Hälfte war – oben mehr als unten – bis zur Mitte von der Hitze der Flammen braun verfärbt.
Überrascht nahm sie die Fotografie aus dem Karton. Ihr Daumen strich über das nicht mehr zu erkennende Gesicht von Nummer vier, dem Mann in der Mitte.
»Ist das dein Vater?«, fragte Darwin.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Der Mann sah mir nur ähnlich. Das da ist mein Adoptivvater.« Sie deutete auf die Person ganz links.
»Lässt du mich mal?« Er streckte die Hand nach dem Foto aus.
Alex gab es ihm. Sein Interesse an dem Schnappschuss war unübersehbar. Er ging damit unter die Deckenlampe, hielt das Bild dicht vor die Nase und bewegte es im Licht, als wolle er jedes auch noch so kleine Detail in sich aufnehmen. Sein Verhalten kam ihr sonderbar vor, umso mehr, da er jetzt sie mit einem Ausdruck ansah, als habe er soeben einen Geist erblickt. Er deutete auf die Fotografie.
»Kennst du diesen Angler hier?«
Sie trat neben ihn und betrachtete das Gesicht Nummer drei. »Keine Ahnung, wer das ist. Ich nehme an, irgendein früherer Arbeitskollege meines Vaters.«
»Du hattest mir doch
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